Kapitel 1
McGlover-Plantage, nahe Nuwara Eliya, 1960
Weit unten im Tal, im Schatten der mit Teesträuchern bewachsenen Hügel und Berge, standen die Verschläge der Teepflückerinnen. Einige der Hütten bestanden aus Lehm, andere aus zusammengetragenen Brettern und Blechteilen, und nur wenige der armseligen Behausungen besaßen eine Öffnung, durch die Tageslicht einfallen konnte. Poinsettia und weitere mächtige Grünpflanzen verdeckten den zwischen den Hütten umherliegenden Unrat, und milchig weiße Wasseradern durchzogen die dunkle Erde.
An diesem Tag trommelte Regen auf das geflickte Wellblechdach, und der Wind pfiff um die Behausung. Mächtige Blätter strichen über die Außenwände, als wollten sie die rauen Stellen glätten. Kleine Rinnsale drückten sich durch Ritzen in das Innere der Hütte. Anjali fror und knetete mit den Händen ihre Arme und Beine, rollte sich wie ein Embryo zusammen und rückte näher an ihre Mutter, denn die Feuchtigkeit der Erde durchdrang inzwischen die Kokosmatte, auf der sie sich zusammendrängten. Auch der als Decke dienende Jutesack konnte beide nicht ausreichend schützen – weder vor der Kälte noch vor der Feuchtigkeit –, deshalb zog Anjali Teile eines Kartons, die an der Wand lehnten, über ihre Körper.
Sita, Anjalis Mutter, bemerkte nichts von ihrer Unruhe. Sie lag bewegungslos auf der Matte, atmete tief und gleichmäßig, völlig erschöpft vom tagtäglichen Tragen der schweren Kiepe und dem unendlichen Klettern über Berge und Hügel.
Viele Stunden überlegte Anjali in der Dunkelheit, wie sie der Mutter erklären sollte, dass sie am kommenden Tag – ihrem 16. Geburtstag – nicht mit hinauf zum Pflücken gehen würde. Sie legte sich Ausreden zurecht, verwarf sie wieder und suchte nach neuen Formulierungen, aber etwas wirklich Glaubwürdiges fiel ihr nicht ein. Endlich entschied sie, Sita die Wahrheit zu sagen. Nichts konnte sie von ihrem Vorhaben abbringen. Seit Tagen spürte sie eine unerklärliche innere Unruhe und deutete es als Zeichen der Götter, weshalb sie beschlossen hatte, den Tempel von Nuwara Eliya zu besuchen. Wie besessen war sie von dem Gedanken, etwas an ihrem trostlosen Leben zu ändern, obwohl sie wusste, dass ihre Jati, ihre Geburtsgruppe, eine Veränderung im Diesseits nicht vorsah.
Vorboten des Morgens fielen durch die Ritzen der ungenügend schließenden Bretter, die als Tür dienten. Noch immer regnete es in Strömen, als es Zeit war, aufzustehen. Die Mutter erwachte und wickelte sich ihren Sari um den bibbernden Körper. Schuhe besaßen sie beide nicht. Während sie ihre morgendlichen Portionen Reis aßen, wagte Anjali sich leise vor: »Mutter, ich geh heute nicht pflücken.«
»Bist du verrückt? Wenn dich die Vorarbeiter erwischen, verprügeln sie dich! Vielleicht jagen sie dich auch von der Plantage. Schlimmeres will ich mir lieber nicht vorstellen.«
»Ist mir egal«, sagte Anjali trotzig. »Ich will zum Tempel nach Nuwara Eliya und die Götter um ein anderes Leben bitten.«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Anjali, das ist doch viel zu weit.«
»Egal«, entfuhr es Anjali. »Ich will hier nicht vermodern und ein Balg von einem schmierigen Aufseher angedreht kriegen.«
Die Mutter schaute sie ungläubig an und lächelte gequält.
Seit Anjali denken konnte, hatten nur ihre Mutter und sie in der Hütte gelebt. Als sie älter geworden war, hatte sie nach ihrem Vater gefragt. Ein bitterer Zug hatte sich um Sitas Mund gebildet. Sie hatte geschwiegen. Eines Tages hatte Anjali aus der Nachbarhütte die groben Befehle eines Aufsehers und die darauf folgenden Schreie eines Mädchens gehört. Danach wollte sie den Namen ihres Vaters nicht mehr wissen.
»Ich sage, du bist krank.«
»Und wenn mich einer sieht?«
»Dann bin ich auch dran!« Die Mutter band sich ihre Kiepe um die Stirn, griff nach dem Stock, der sie vor Schlangen schützen sollte, die zwischen den Teebüschen lauerten, und verließ ohne ein weiteres Wort die Hütte.
Anjali wischte Reisreste aus dem Blechnapf. Die Opfergabe legte sie auf einem Blatt auf den Altar, der seit unzähligen Jahren an einer geschützten Stelle vor der Hütte stand. Dann pflückte sie einige Blüten von den Zistrosen und schmückte den kleinen Altar in der Ecke ihrer Hütte.
Aus der Ferne konnte sie die leiser werdenden Gesänge der Teepflückerinnen hören, die durch die grünen Büsche die Hänge hinaufzogen. Als die Teepflückerinnen und Aufseher außer Hörweite waren, rannte Anjali den schmalen Sandweg hinauf, bis sie die Straße erreichte, die Colombo mit Nuwara Eliya verband. Sie lief am Rand der geteerten Straße, Autos fuhren durch die riesigen Pfützen, die sich in dem löchrigen Asphalt gebildet hatten. Die steilen Hänge der Teeplantagen reichten bis an den Straßenrand und verhinderten ein Ausweichen, so dass Anjali nach mehreren Stunden Fußmarsch ihr Ziel völlig durchnässt erreichte. Sie war müde, hungrig und durstig, aber die Sicht auf die Tempelanlage v