II.
Patriotismus und Christentum
(Christianstvo i patriotizm, 1894)
Graf Leo Tolstoi
Deutsch von Adele Berger4
VORWORT
Die französisch-russischen Festlichkeiten, die im vorigen Oktober in Frankreich stattfanden, haben mich – und zweifellos auch andere – zuerst belustigt, dann erstaunt und zuletzt empört. Ich wollte diese Gefühle in einem kurzen Zeitungsartikel zum Ausdruck bringen, aber während ich die Hauptursachen des Geschehenen näher studierte, kam ich zu den Reflexionen, die ich hiermit dem Leser darlege.
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I.
Russen und Franzosen kennen einander seit vielen Jahrhunderten, wobei sie manchmal in freundliche, öfter leider aus Antrieb ihrer Regierungen in sehr unfreundliche Beziehungen zu einander traten. Plötzlich geschah etwas Seltsames. Weil vor zwei Jahren ein französisches Geschwader nach Kronstadt kam, dessen Offiziere nach ihrer Landung viel aßen und tranken und dabei viele falsche und thörichte Reden hörten und hielten und weil voriges Jahr ein russisches Geschwader in Toulon erschien, dessen Offiziere, in Paris angekommen, ebenfalls reichlich aßen und tranken und noch eine größere Menge alberner und unwahrer Reden anhörten und hielten – ja, einzig und allein aus diesem Grunde bildeten sich nicht nur die, die aßen, tranken und sprachen, sondern jeder, der diesen Festen beigewohnt, und selbst solche, die von diesen Vorgängen bloß hörten oder in der Zeitung lasen – kurz, Millionen Franzosen und Russen, plötzlich ein, daß sie auf ganz besondere Weise in einander verliebt seien, das heißt, daß alle Franzosen alle Russen und alle Russen alle Franzosen lieben.
Diese Gefühle kamen in Frankreich durch die Vorgänge im Oktober in ganz unerhörter Weise zum Ausdruck.
Im „Cjelsky Wjestnik“5*, einem Blatte, das seine Informationen der Tagespresse entnimmt, erschien die folgende Beschreibung dieser Vorgänge:
„Als das französische und russische Geschwader zusammentraf, begrüßten sie einander mit Kanonenschüssen, feurigen ,Hurrahs‘ und mit den begeisterten Rufen: ‚Es lebe Rußland!‘ ‚Es lebe Frankreich!‘
In dieses Freudengeschrei mischten sich die Klänge zahlreicher Musikkapellen (auch die meisten Privatdampfer führten solche mit sich), die ‚Das Leben für den Zar‘ und die ‚Marseillaise‘ spielten. Das Publikum auf den Dampfern schwenkte Hüte, Fahnen, Taschentücher und Blumensträuße; viele Boote waren ganz mit Männern und Frauen der arbeitenden Klasse und ihren Kindern besetzt, die Bouquets in den Händen hielten und mit aller Macht ‚Es lebe Rußland!‘ schrieen. Angesichts einer solchen nationalen Begeisterung konnten unsere Seeleute die Thränen nicht zurückhalten.
Im Hafen waren alle französischen Kriegsschiffe in zwei Divisionen ausgefahren, und unsere Flotte, das Admiralsschiff an der Spitze, fuhr zwischen ihnen durch. Das war ein prächtiger Moment.
Das russische Flaggenschiff gab zu Ehren der französischen Flotte einen Salut von fünfzehn Schüssen ab, und das französische Flaggenschiff antwortete mit dreißig. Aus den französischen Schiffen ertönte die russische Nationalhymne; französische Matrosen kletterten auf Maske und Tafelwerk, ununterbrochen ertönte lautes Willkommgeschrei. Die Matrosen schwenkten zu Ehren der lieben Gäste die Mützen, die Zuschauer Hüte und T