: Leo N. Tolstoi
: Peter Bürger
: Staat - Kirche - Krieg Texte über den Pakt mit der Macht und das Herrschaftsinstrument Patriotismus
: Books on Demand
: 9783757867300
: 1
: CHF 7.00
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: Religion/Theologie
: German
: 320
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Russe Leo N. Tolstoi wendet sich 1900 an seine Menschengeschwister:"Nur dann könnt Ihr Euch befreien, wenn Ihr mutig in das Gebiet jener höheren Idee der Verbrüderung aller Völker eintretet, der Idee, die schon lange ins Leben getreten ist und Euch von allen Seiten zu sich heranruft." Patriotismus ist in seinen Augen Sklaverei - ein Herrschaftsinstrument, mit dem die Interessen einer kleinen Minderheit verschleiert und die Massen in den Abgrund der militärischen Heilslehre getrieben werden. Der Staat benötigt für seine Kriegsapparatur vor allem ein Kirchengebäude, welches die Botschaft der Religion ins Gegenteil verfälscht, die Waffenproduktion absegnet und das Töten im Namen einer angeblich von Gott verliehenen Vollmacht rechtfertigt. Seit der konstantinischen Wende zu Beginn des 4. Jahrhunderts erfüllen die großen"christlichen" Institutionen ohne Scham diese Aufgabenstellung. Sie erweisen sich als Dienstleister der Mächtigen und Besitzenden. Der hier vorgelegte Sammelband enthält u.a. folgende Schriften Tolstois zu diesem todbringenden Komplex: Ernste Gedanken über Staat und Kirche (Cerkov' i gosudarstvo, 1879) - Patriotismus und Christentum (Christianstvo i patriotizm, 1894) - Sinnlose Hirngespinste (Bessmyslennye mectanija, 1895) - Patriotismus oder Frieden (Patriotizm ili mir?, 1896) - Cathargo delenda est (1898) - Patriotismus und Regierung (Patriotizm i pravitel'stvo, 1900) - Muss es denn wirklich so sein? (Neuzeli eto tak nado?, 1900) - Eines ist not (Edinoe na potrebu, 1905) - Es ist Zeit, zu begreifen (Pora ponjat', 1909). Das authentische Christentum unschädlich zu machen, darin liegt Tolstoi zufolge die Funktion des mit dem Staat paktierenden Kirchentums: Erst"wenn diese falsche Lehre aufhört zu existieren, wird es kein Heer geben und ... jene Vergewaltigung, Knechtung und Demoralisierung, die an den Völkern verübt werden, aufhören." Tolstoi-Friedensbibliothek. Reihe B, Band 2 (Signatur TFb_B002) Herausgegeben von Peter Bürger

Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane"Krieg und Frieden" (1862-1869) und"Anna Karenina" (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum"Hauptmotiv" des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte"Lehre vom Nichtwiderstreben" ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen"Kunstthe rie" und den (von Rosa Luxemburg durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber - mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs - 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt:"Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären."

II.
Patriotismus und Christentum

(Christianstvo i patriotizm, 1894)

Graf Leo Tolstoi

Deutsch von Adele Berger4

VORWORT

Die französisch-russischen Festlichkeiten, die im vorigen Oktober in Frankreich stattfanden, haben mich – und zweifellos auch andere – zuerst belustigt, dann erstaunt und zuletzt empört. Ich wollte diese Gefühle in einem kurzen Zeitungsartikel zum Ausdruck bringen, aber während ich die Hauptursachen des Geschehenen näher studierte, kam ich zu den Reflexionen, die ich hiermit dem Leser darlege.

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I.


Russen und Franzosen kennen einander seit vielen Jahrhunderten, wobei sie manchmal in freundliche, öfter leider aus Antrieb ihrer Regierungen in sehr unfreundliche Beziehungen zu einander traten. Plötzlich geschah etwas Seltsames. Weil vor zwei Jahren ein französisches Geschwader nach Kronstadt kam, dessen Offiziere nach ihrer Landung viel aßen und tranken und dabei viele falsche und thörichte Reden hörten und hielten und weil voriges Jahr ein russisches Geschwader in Toulon erschien, dessen Offiziere, in Paris angekommen, ebenfalls reichlich aßen und tranken und noch eine größere Menge alberner und unwahrer Reden anhörten und hielten – ja, einzig und allein aus diesem Grunde bildeten sich nicht nur die, die aßen, tranken und sprachen, sondern jeder, der diesen Festen beigewohnt, und selbst solche, die von diesen Vorgängen bloß hörten oder in der Zeitung lasen – kurz, Millionen Franzosen und Russen, plötzlich ein, daß sie auf ganz besondere Weise in einander verliebt seien, das heißt, daß alle Franzosen alle Russen und alle Russen alle Franzosen lieben.

Diese Gefühle kamen in Frankreich durch die Vorgänge im Oktober in ganz unerhörter Weise zum Ausdruck.

Im „Cjelsky Wjestnik“5*, einem Blatte, das seine Informationen der Tagespresse entnimmt, erschien die folgende Beschreibung dieser Vorgänge:

„Als das französische und russische Geschwader zusammentraf, begrüßten sie einander mit Kanonenschüssen, feurigen ,Hurrahs‘ und mit den begeisterten Rufen: ‚Es lebe Rußland!‘ ‚Es lebe Frankreich!‘

In dieses Freudengeschrei mischten sich die Klänge zahlreicher Musikkapellen (auch die meisten Privatdampfer führten solche mit sich), die ‚Das Leben für den Zar‘ und die ‚Marseillaise‘ spielten. Das Publikum auf den Dampfern schwenkte Hüte, Fahnen, Taschentücher und Blumensträuße; viele Boote waren ganz mit Männern und Frauen der arbeitenden Klasse und ihren Kindern besetzt, die Bouquets in den Händen hielten und mit aller Macht ‚Es lebe Rußland!‘ schrieen. Angesichts einer solchen nationalen Begeisterung konnten unsere Seeleute die Thränen nicht zurückhalten.

Im Hafen waren alle französischen Kriegsschiffe in zwei Divisionen ausgefahren, und unsere Flotte, das Admiralsschiff an der Spitze, fuhr zwischen ihnen durch. Das war ein prächtiger Moment.

Das russische Flaggenschiff gab zu Ehren der französischen Flotte einen Salut von fünfzehn Schüssen ab, und das französische Flaggenschiff antwortete mit dreißig. Aus den französischen Schiffen ertönte die russische Nationalhymne; französische Matrosen kletterten auf Maske und Tafelwerk, ununterbrochen ertönte lautes Willkommgeschrei. Die Matrosen schwenkten zu Ehren der lieben Gäste die Mützen, die Zuschauer Hüte und T