1. KAPITEL
Nasira Edwards saß in einem bequemen Korbstuhl auf der großen Terrasse derWild Aces Ranch. Der Blick von dem stattlichen Ranchhaus aus über die saftigen Weideflächen war spektakulär. Ihr Bruder Rafiq hatte die Ranch für seine Verlobte Violet McCallum gekauft, und Nasira genoss jetzt Anfang Mai die warme Brise. In London konnte es zu dieser Jahreszeit noch recht ungemütlich sein.
Ursprünglich war sie nach Royal gekommen, um ihren Bruder von einem unfairen Rachefeldzug abzuhalten. Das kleine texanische Städtchen hatte außer dem legendärenTCC, demTexas Cattleman’s Club, nicht allzu viel Bemerkenswertes zu bieten, war ihr aber schon nach wenigen Wochen irgendwie ans Herz gewachsen. Glücklicherweise hatte sie Rafiq davon überzeugen können, dass er kein Recht hatte, sich an Violets Bruder Mac zu rächen, für einen Fehler, den allein sie zu verantworten hatte, und das vor mehr als zehn Jahren.
Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb sie fast überstürzt aus London geflohen war. Sie hatte sich nach Ruhe und Frieden gesehnt, aber noch hatte sie beides nicht gefunden. In Erinnerungen versunken zog sie ein schmales silbernes Armband aus der Tasche. Das hatte Sebastian ihr geschenkt, als der Arzt ihr bestätigt hatte, dass sie schwanger war. Da ihr Mann eigentlich nicht daran interessiert war, Vater zu werden, hatte das Geschenk sie damals überrascht. Aber sie hatte es als Beweis genommen, dass er sich mit ihr auf das Kind freute.
Bis sie eine Fehlgeburt erlitten hatte und alle Hoffnungen auf eine Zukunft als glückliche Familie zerbrachen. Sie war am Boden zerstört gewesen, so sehr hatte sie bereits an diesem winzigen Wesen gehangen. Auch heute noch schmerzte der Verlust, umso mehr, als auch Sebastian sich in dem letzten halben Jahr von ihr abgewandt hatte. Seine kühle Zurückhaltung, wenn sie zusammen waren, hatte sie nicht mehr ausgehalten. Und so hoffte sie, dass der Abstand ihr half, sich über ihre Zukunft klar zu werden.
Als sich hinter ihr die Terrassentür öffnete, nahm sie an, ihr Bruder Rafiq wolle ihr Gesellschaft leisten. Aber es war Mac McCallum.
„Geht’s dir gut?“, fragte er lächelnd.
„Ja, danke. Ich bewundere den Sonnenuntergang.“
„Soso, aber die alte Sonne ist doch schon vor einer ganzen Weile verschwunden. Wie auch immer, meine Schwester schickt mich. Das Essen ist gleich fertig.“
Essen … Sie hatte wenig Appetit in der letzten Zeit. „Das ist sehr lieb, aber ich habe keinen Hunger.“
„Wie du meinst. Aber wenn du so weitermachst, wirst du vom nächsten starken Windstoß einfach umgepustet.“
Sie lächelte kurz und stand auf. „Dann sollte ich vielleicht doch eine Kleinigkeit essen. Bleibst du zum Dinner?“
„Nein, heute nicht. Ich habe noch eine Verabredung mit Andrea.“
Aha … Nasira hatte den Eindruck, dass Macs Interesse an der jungen Frau kein rein geschäftliches war. Was er aber noch nicht einmal sich selbst eingestand, wie seine Schwester Violet meinte. „Beruflich oder zum Vergnügen?“
„Beruflich natürlich.“
„Noch so spät?“
„Das ist bei einem Unternehmen wieMcCallum Energy leider nicht zu vermeiden.“
„Ganz sicher nicht.“ Nasira machte ein paar Schritte in Richtung Terrassentür, blieb dann aber stehen und sah Mac ernst an. „Ich möchte mich noch einmal von ganzem Herzen für das entschuldigen, was ich dir damals angetan habe. Es hat mir die ganzen Jahre schwer auf der Seele gelegen, und das mit Recht.“
Mac zuckte kurz mit den Schultern. „Was soll’s! Wir waren beide noch sehr jung. Du hast das Ganze doch nur inszeniert, weil du diesen alten Kerl nicht heiraten wolltest, dem du versprochen warst.“
Ja, ein Mann, den ihr strenger Vater damals für sie ausgesucht hatte, wie es in ihrer arabischen Heimat üblich war. Sie hatte gedacht, der Besuch bei ihrem Bruder in Kalifornien könnte ihr helfen, aus der arrangierten Ehe herauszukommen. Aber ihr Plan hatte schreckliche Folgen gehabt. Rafe hatte sich an Mac rächen wollen.
„Ich hätte dich nie benutzen dürfen, um mein Ziel zu erreichen“, sagte sie Mac. „Mich in dein Bett zu legen, damit mein Vater mich da erwischte, war unmöglich. Und der arme Rafe, der dann von m