: Frank Dieckbreder, Sandra Hildebrandt
: Gemeinsam unterm Regenbogen Werkbuch Vielfaltssensibilität - LGBT+ für Diakonie, Gemeinden und soziale Arbeit
: Neukirchener Verlagsgesellschaft
: 9783761569153
: 1
: CHF 20.50
:
: Christliche Religionen
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Abkürzung LGBTIQ+ für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter* und Queer zeugt zunächst schlicht von der Vielfalt menschlichen Lebens. Doch dahinter stehen oft persönliche Lebenskrisen Einzelner ebenso wie gesellschaftliche Herausforderungen im Umgang mit Vielfalt insgesamt. All dies ist auch Alltag in der Kinder- und Jugendhilfe. Daher müssen sich die Unterstützenden und Verantwortlichen klar werden, was dieses Thema für sie bedeutet. Gemeinsam sind Frank Dieckbreder und Sandra Hildebrandt diesen Fragen nachgegangen und haben mit Mitarbeitenden aus unterschiedlichen Bereichen sowie Expert:innen aus Diakonie und Kirche nach Antworten gesucht. Sie liefern eine Hilfestellung für alle, die im Bereich Kinder- und Jugendarbeit tätig sind. Ein Buch, in dem die Autor:innen ihr bisheriges Wissen zusammentragen, Handlungsvorschläge darstellen und zum Weiterdenken und -handeln einladen. Praxisnah mit Beiträgen von Mitarbeitenden aus den Einrichtungen und Gesellschaften des freien Kinder- und Jugendhilfeträgers Diakonieverbund Schweicheln e.V., Kirche und Diakonie.

Prof. Dr. Frank Dieckbreder ist pädagogischer Vorstand im Diakonieverbund Schweicheln e. V.

LSBTIQ* – eine Frage der eigenen Wahlentscheidung?

Markus Felk – Ev. Stiftung Dialog für innovative ­Kinder- und Jugendhilfe

Blitzlicht

Ich starte mit einem Gedankenexperiment: Menschen, die bei ihrer Geburt anhand bestimmter Merkmale als biologisch männlich bestimmt wurden, werden auf eine Insel verbannt. Auf dieser Insel leben ausschließlich biologische Männer. Diese Männer haben keinen Kontakt zu biologischen Frauen und ihnen fehlen zudem jegliche Bezüge aus der Natur (Tiere), die sie auf den Gedanken bringen könnten, dass es ein weibliches biologisches Geschlecht gäbe. Die Männer auf der Insel entwickeln eigene Kulturen und Strukturen des Zusammenlebens, bedienen sich vielleicht sogar männlicher Stereotypen heutiger Gesellschaften. Sie leben demnach völlig isoliert und abgeschottet. Was den biologischen Männern als erstes auffallen und sie auch skeptisch stimmen würde, wäre die Tatsache, dass der Nachwuchs nicht aus ihrer eigenen Population stammt, sondern stets von außen (also extern) dazukommt. Die Männer würden sich zwangsläufig die Frage stellen, wie das Leben entsteht. Dieser Frage nachzugehen wäre für die Männer von existenzieller Bedeutung. Das bedeutet, entweder muss ein Mythos als Lügengeschichte konstruiert werden und diesem Gedankenexperiment hinzugefügt werden oder aber die Männer gehen dieser Frage nach dem Entstehen des Lebens nach. Die Männer finden heraus, dass es Fortpflanzung gibt und dass es hierfür Mann und Frau benötigt, um Nachkommen zu zeugen. Die aufgebauten Strukturen und eigenen Kulturen würden dadurch von den Männern grundsätzlich infrage gestellt. An dieser Stelle lässt man die Männer entscheiden: Wollt ihr, dass alles weiterhin so bestehen bleibt und biologische Männer als Nachkommen auf die Insel gebracht werden oder wollt ihr, dass nun auch Frauen auf die Insel dürfen? Was entsteht in solch einer Gesellschaft, wenn alle bisherigen Strukturen des Zusammenlebens infrage gestellt würden?

Was bisher bekannt ist

Wenn man davon ausgeht, dass Sexualität sowie Geschlechtlichkeit eine wichtige Rolle im Leben von Menschen einnimmt, würden die biologischen Männer auf der Insel aufgrund des fehlenden weiblichen Geschlechts ausschließlich eine homosexuelle Orientierung entwickeln? Gäbe es eine Möglichkeit für die Männer, ohne Frauen eine eigene geschlechtliche Identität zu definieren? Würden die Männer ohne diesen Bezug überhaupt sagen können: Wir sind Männer?

Ausgehend von diesem Gedankenexperiment ist zunächst nur eines klar: Die biologischen Männer könnten im weitesten Sinn nur überleben, wenn weiterhin nicht vorsozialisierte Männer auf die Insel gebracht würden. Außerdem wird in diesem Gedankenexperiment fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es ein „isoliertes biologisches Geschlecht“ gäbe.

Der französische Philosoph Michel Foucault hat mit einem einschlägigen Beispiel beschrieben, dass sich die binäre Geschlechterzuordnung (Mann und Frau) ab dem 18. Jahrhundert in europäischen Gesellschaften verfestigt hat. Im sogenannten „Fall Barbin“ geht Foucault auf die dokumentierten Lebenserinnerungen von Herculine Barbin ein, die im Jahr 1838 geboren wurde. Herculine Barbin, auch genannt Alexina, wurde in einem Nonneninternat großgezogen. Ein Pfarrer meldet das Mädchen aufgrund von körperlichen Anomalien