: Viktor Martinowitsch
: Nacht
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958905474
: 1
: CHF 18.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 424
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Blackout in Mitteleuropa. Die Rotation der Erde hat aufgehört. Es gibt keinen Strom mehr. Wasser ist aufgrund einer Veränderung der Atmosphäre nur stundenweise verfügbar. Öl und Kohle brennen nicht mehr, selbst Kompasse funktionieren nicht. Minsk ist zerfallen in Territorien sich gegenseitig bekriegender Clans. Knischnik ist Eigentümer der einzigen noch nicht verbrannten Bibliothek und Besitzer von Gerda, der letzten noch nicht gefressenen Hündin in Gruschewka. Eines Tages macht er sich mit nichts als einer Taschenlampe und einer alten Karte auf den Weg, seine Geliebte zu suchen, die sich zum Zeitpunkt des weltweiten Stromausfalls in Nepal aufhielt. Dort, laut Knischniks Berechnungen, sollte ewiger Sonnenaufgang sein. Auf seiner Wanderung durch die toten Landschaften macht er nicht nur unerwartete Bekanntschaften wie die mit dem Zar der Müllhalden, er lernt auch Schritt für Schritt, mit dem Herzen zu hören und zu sehen. Anders als früher, als ihm - wie allen anderen - Angst, Gewohnheit und Unkenntnis die Augen verschlossen und er ein Opfer von Propaganda und Gerüchten war, macht er nun seine ganz individuellen Erfahrungen mit Gut und Böse.

Viktor Martinowitsch, 1977 in Belarus geboren, ist Politikwissenschaftler und promovierte in Kunstgeschichte. Er lehrt an der Universität in Vilnius und schreibt regelmäßig für Die Zeit. Seine Werke erscheinen sowohl in belarussischer als auch russischer Sprache. Sein Roman Paranoia (2009), wurde in Belarus nach Erscheinen inoffiziell verboten. 2012 wurde Martinowitsch mit dem Maxim-Bogdanowitsch-Literatur reis ausgezeichnet. Im Jahr 2017 war er 'Writer in Residence' am Literaturhaus Zürich und der Stiftung PWG. Martinowitsch lebt mit seiner Familie in Minsk. Franziska Zwerg, geb. 1969, studierte in Berlin und Moskau. Derzeit lebt sie als Literaturübersetzerin in Potsdam. Sie war im Bereich Theater und Dokumentarfilm sowie im deutsch-russischen Kulturaustausch tätig und hat Werke von Sergej Lebedew, Dmitry Glukhovsky, Dina Rubina, Shamshad Abdullaev, Halina Po?wiatowska u.a. übersetzt.

ERSTES NOTIZHEFT


Erster Abschnitt


Das Erste, was ich beim Öffnen der Augen zum fernen Schlagen der Stadtglocke sah, war ein spitz zulaufendes Muster, das einem Ahornblatt ähnelte. Silbrig schimmerte es auf dem geschwärzten Samt des reifbedeckten Fensterglases. So viel Zeit war vergangen, doch die zarten Äderchen schmolzen nicht, hatten sich nicht im Geringsten verändert – der beste Beweis, dass die niedrige Temperatur seit Ewigkeiten konstant geblieben war (falls jemand einen solchen Beweis braucht). Das Hundl war, wie üblich, wenige Augenblicke vor dem ersten Glockenschlag aus dem Bett gesprungen, in dem wir uns gegenseitig wärmten, und scharrte mit den Krallen auf dem Boden vor der Wohnungstür.

Ich warf die alten Schaffellmäntel und Pelze ab, unter denen ich mich zusätzlich zu zwei Decken gewärmt hatte, und lauschte der Glocke. Nun ja, »Glocke« ist natürlich übertrieben. Da die Stadtverwaltung heute keine andere Möglichkeit zur Benachrichtigung der Bevölkerung mehr hat, schlägt ein Glöckner mit dem Namen Gazak zu Beginn eines Werktages achtmal gegen eine rostige Schiene, die über dem See hoch oben am Fabrikschornstein angebracht ist. Das bedeutet: Vermutlich ist es jetzt »acht Uhr« am »Morgen«. Selbstverständlich haben wir seit einer Ewigkeit keinen »Morgen« mehr gesehen, aber irgendwie musste man den »neuen Tag« ja beginnen. Und fragen Sie mich jetzt bloß nicht, wie Gazak die Zeitspanne zwischen dem letzten »Abend«-Läuten und dem ersten »Morgen«-Läuten bestimmt. Die Hälfte des freien Hruschawka argwöhnt nämlich, dass er schummelt. Einfach nur, um sich über die Stadtbewohner lustig zu machen, die ihm, dem Spitzbart, vertrauen.

Da es keine batteriebetriebenen Uhren mehr gibt (denn wer will schon kostbares Zink für so eine relative Sache wie »Zeit« ausgeben), kann Gazak den »Morgen einläuten«, sobald er wieder einen klaren Kopf hat nach einem ordentlichen Quantum Fusel, mi