I. Die Zähmung der Jesusbewegung
Ein Vergleich der real existierenden Kirche mit der ursprünglichen Jesusbewegung, wie sie sich im Neuen Testament und in den Zeugnissen der frühen Kirche darstellt, ist keine neue Idee. Spätestens seit der Reformation wurde die Kirche der jeweiligen Gegenwart immer wieder an den neutestamentlichen Zeugnissen gemessen. In der Regel schnitt sie dabei schlecht ab. Ebenso regelmäßig änderte dies aber nur selten etwas an der kirchlichen Realität; es blieb meist bei einer unfruchtbaren Klage.
Schon die Diagnose des Problems ist umstritten. Lag es fundamental an der falschen Lehre, wie es die Reformation vermutete? War es die persönliche Frömmigkeit, die aus der Sicht der Pietisten zu kurz kam? War es, wie die Pioniere und Pionierinnen der Diakonie vermuteten, die defizitäre Praxis kirchlicher Liebestätigkeit? War es die Unentschiedenheit der volkskirchlichen Mitgliedschaft samt Kindertaufe? Lag es an der Institutionalisierung einer ursprünglich lebendigen Bewegung? Oder hatte die enge Verbindung von Thron und Altar den Enthusiasmus erlahmen lassen? Ist das Problem vielleicht auch nur die hausbackene Art der kleinbürgerlichen Gemeinden, die die jungen, kreativen Köpfe abstößt?
All diese Diagnosen sind nicht falsch. In jeder steckt mindestens das berühmte Körnchen Wahrheit, in vielen auch mehr davon. Aber gibt es ein gemeinsames Band, das sie alle so umfasst, dass sich daraus ein einprägsames Bild und zugleich eine Perspektive nach vorn ergibt?
Von allen Versuchen, diese Faktoren in einem übergreifenden Bild zu verbinden, leuchtet mir die Metapher des Auswilderns samt dem damit verbundene Gegenbegriff der Domestizierung am stärksten ein. Sie spiegelt wider, dass unsere Kirchen und Gemeinden mit der Unübersichtlichkeit des wilden, ungeregelten Lebens nicht mehr vertraut sind und sich stattdessen angewöhnt haben, in einem begrenzten, übersichtlich geordneten Rahmen zu existieren. Sicherheit wird hochgeschätzt, in der Theologie ebenso wie in der Organisation, bei Finanzierung und Mitgliederbindung, in der Personalauswahl, bei der Deutung der Welt und vielen anderen Gelegenheiten.
Wer sich aber nie der vollen, rauen Wirklichkeit aussetzen muss, bringt sich auch um die Erfahrung von Krise, Kraft und Gelingen. Die Metapher des Auswilderns birgt in sich eine tiefe Verunsicherung, zugleich aber auch die Verheißung frischer Energie und neu errungener Kompetenz, auch wenn es dafür keine Zertifizierungen gibt.
Immerhin gibt es eine Menge Parallelen zwischen der Domestizierung einer faszinierenden wilden Tierart und der Verwandlung der frühen Kirche in eine dominante und machtbewusste Institution, die heute – nach dem Verlust ihrer zentralen gesellschaftlichen Stellung – unbeweglich und ängstlich geworden ist und kein sonderlich beeindruckendes Profil mehr aufweist.
Christliches Leben im Europa der Gegenwart scheint auf den Schutz eines weltlich organisierten kirchlichen Apparates ähnlich angewiesen zu sein wie Batteriehühner auf die konstante Wärme ihres Stalls, die sorgfältige Betreuung durch Fachleute und die passgenaue Zufuhr von Wasser, Nährmitteln und Medikamenten. Zumindest die Kirche des Westens hütet vor allem den Bestand; ihre Fruchtbarkeit (also ihr missionarisches Potenzial) hat sie trotz aller Modernisierungsanstrengungen der letzten 70 Jahre nicht zurückgewonnen. Die alten Dome sind für viele Menschen nicht mehr als eine touristische Attraktion, ähnlich dem Besuch beim Eisbären im Zoo, der – wiewohl durchaus beeindruckend – in Zeiten der Erderwärmung auch keine gute Zukunft mehr zu erwarten hat.
Selbstverständlich gibt es auch in der westlichen Christenheit Ausnahmen von dieser Zustandsbeschreibung: Gemeinden und Gruppierungen, die Wachstum aufweisen – sei es aufgrund besonders günstiger Bedingungen oder durch besonders kompetente Protagonisten. Aber kompetente Menschen werden überall, auch unter schwierigen Bedingungen, überdurchschnittliche Ergebnisse