: Petra Schütt
: 'Security First' Erwerbslose im Spannungsfeld zwischen Hilfebezug und prekärem Arbeitsmarkt
: Herbert von Halem Verlag
: 9783744508087
: 1
: CHF 32.10
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: Arbeits-, Wirtschafts- und Industriesoziologie
: German
: 304
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit der Einführung der 'GeSetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt' erfolgte eine Neuausrichtung des Sozialstaatsmodells vom versorgenden Wohlfahrts- zum Aktivierungsstaat. Diese Transformation des Sozialstaats wird mittels sog. 'Work-first'-Programme umgeSetzt, deren Primärziel eine möglichst schnelle Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt ist. In dieser empirischen Arbeit wird gezeigt, wie Erwerbslose den ALG-II-Bezug aktiv, aber eigenwillig als Sicherheitsressource interpretieren und nutzen. Mit der Handlungsstrategie 'Security first' wird nicht eine möglichst schnelle, sondern eine möglichst stabile Integration ins Erwerbssystem verfolgt. Es handelt sich um eine eigenverantwortliche Priorisierung von individueller Sicherheit, die dazu dient, die Risiken eines prekären Arbeitsmarkts unter Bedingungen zunehmender Subjektivierung zu begrenzen. Die vorliegende Untersuchung bietet die Grundlage für eine politische Debatte, die jenseits von 'Schuldzuweisungen' gegenüber erwerbsfähigen Hilfebedürftigen anSetzt, welche zumeist auf moralisierenden Unterstellungen von defizitären Persönlichkeitsmerkmalen und geringer Erwerbsorientierung basieren. Die Ergebnisse zeigen, wie der Hilfebezug als wichtige Ressource genutzt wird, um bei hoher Eigenverantwortlichkeit und ausgeprägter Erwerbsorientierung auch weiterhin individuell das Ziel der Arbeitsmarktintegration zu verfolgen. Aber: Arbeit nicht um jeden Preis - 'Security first'!

Petra Schütt forscht als Arbeits- und Industriesoziologin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF München). Als Mitarbeiterin der Landeshauptstadt München, Referat für Arbeit und Wirtschaft, ist sie mit Grundsatzfragen zur kommunalen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik befasst; zudem ist sie Lehrbeauftragte an der Hochschule München.

2. Der Systemwandel der sozialen Sicherung


Wie bereits in der Einleitung dargelegt, hat sich in Deutschland in den letzten zehn Jahren ein enormer Wandel des Systems der sozialen Sicherung vollzogen. Der Sozialstaat hat sich zum modernen Wohlfahrtsstaat gewandelt, ein wesentliches Element ist die Neuausrichtung des sozialen Sicherungssystems nach den Prinzipien des Workfare und eine Erweiterung um das Leistungsprinzip (vgl. Schneider 2011, S. 23). Was ist das qualitativ Neue daran? Wie eng sind Arbeitslosigkeit und ihre gesellschaftliche Deutung mit dem Erwerbssystem, der Erwerbsgesellschaft verbunden? Was ist der Grund dafür, dass nun im Zuge der Neuausrichtung von „Re-Kommodifizierung“ die Rede ist? Um das qualitativ Neue dieses Wandels von Welfare zu Workfare erfassen zu können, lohnt zunächst ein Rückblick in die Geschichte sozialstaatlicher Armuts- und Arbeitslosenpolitik und ein Blick auf deren sozialwissenschaftliche „Verarbeitung“. Zum Verständnis der aktuellen Debatten rund um das Phänomen Arbeitslosigkeit ist es hilfreich, die Auseinandersetzung mit Arbeitslosigkeit seit Beginn der Industrialisierung, also über einen langen Zeitraum, in dem sich Erwerbsarbeit zunehmend als zentraler Vergesellschaftungsmodus herausgebildet hat, in groben Linien nachzuzeichnen.

Auf Basis dieser Entwicklungslinien ist der Systemwandel, wie er mit den Hartz-Reformen eingeleitet wurde, verstehbar und die Qualität des Paradigmenwechsels nachvollziehbar. Dabei ist von Interesse, wie dieser Systemwechsel in normative Regelungen umgesetzt wird und wie die arbeitsmarktpolitischen Ansatzpunkte im Detail geregelt sind. Knapp zehn Jahre, nachdem die Reformen angestoßen wurden, können den formulierten Zielen auch die entsprechenden Arbeitsmarktdaten gegenüber gestellt werden. Dieser quantitative Blick auf die Entwicklung von Arbeitslosigkeit wird abschließend durch qualitative Ergebnisse der Wirkungsforschung zu aktivierender Arbeitsmarktpolitik ergänzt. Wie sind Vermittlungsprozesse konkret ausgestaltet? Wie wird der Spagat zwischen „Fördern und Fordern“, zwischen Eigenverantwortung und Restriktion, im Vermittlungsprozess im Alltag gelebt und erlebt? Wie werden die Instrumente und Maßnahmen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik umgesetzt und wie wirken sie aus Sicht der Betroffenen? Auf Grundlage der historischen Einbettung der Veränderungen sowie des Stands der einschlägigen Forschung werden die Fragestellung sowie die Untersuchungsgruppe dieser Studie noch einmal spezifiziert.

2.1 Historische Entwicklung der Armuts- und Arbeitslosenforschung in Deutschland


Die folgende Darstellung der historischen Entwicklung der Armuts- und Arbeitslosenforschung in Deutschland dient als Einführung und Hinführung zu den aktuellen Debatten und den diskutierten Veränderungen. Hier lassen sich drei historische Phasen unterscheiden. Zunächst geht es um die Phase der Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der Armut und Arbeitslosigkeit in erster Linie als individuelles Versagen interpretiert wurden. Im Zuge wirtschaftlicher Veränderungen, allen voran der Weltwirtschaftskrise um 1929, veränderte sich dann die Sichtweise auf die „Schuldfrage“; die Arbeitsmarktforschung nahm strukturelle sowie konjunkturelle Armuts- und Arbeitslosenrisiken in den Blick und die Auswirkungen von derart „unverschuldeter“ Arbeitslosigkeit gerieten ins Visier der Forschung. Wegweisend für diese Art von Wirkungsforschung war die 1933 erschienene Untersuchung „Die Arbeitslosen von Marienthal“ der Forschungsgruppe um Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel. Nach dem Zweiten Weltkrieg fristete die Arbeitslosenforschung in der jungen Bundesrepublik Deutschland aufgrund der niedrigen Arbeitslosenzahlen bis in die 1970er Jahre ein eher unscheinbares Dasein, erst Anfang der 1980er führten steigende Arbeitslosenquoten zu einem Wiedererstarken des Interesses an dem Phänomen Arbeitslosigkeit. In dieser Zeit gewann eine dynamische, lebenslauforientierte Betrachtung von Arbeitslosigkeit an Boden. Von 1993 bis 2011 lag die Arbeitslosenzahl in der Bundesrepublik über drei Millionen, die Arbeitslosenquoten bewegten sich in diesem Zeitraum zwischen 7,7 und 11,7 Prozent (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2012, S. 44 und 56). Diese dauerhaft hohe Arbeitsl