Kapitel 2 - Lesniac - Der Dämon in Mir
„Lesniac! Hörst du mir zu oder träumst du?“
Ich zucke zusammen und schaue auf. Gott sieht mich mahnend an und zeigt auf die elysische Lehrtafel, doch ich habe tatsächlich keinen Schimmer, was er von mir will. Statt zuzuhören, starrte ich die ganze Zeit nur die himmlisch harte Kreide an, die so schön lang und gerade ist, und war ihretwegen vollkommen in Gedanken versunken.
„Ich ... bitte verzeiht, Vater“, antworte ich stockend. Ich kann mir das nicht erklären, aber alles, was vom Umfang her in meine Hand passt, lang und hart ist, fasziniert mich. Ich will mich noch weiter entschuldigen, doch da verspüre ich plötzlich ein immer stärker werdendes Druckgefühl, welches sich in meinen Lungen ausbreitet, und halte die Hand an die Brust.
„Was hast du?“, fragt Gott nun mit etwas mehr Besorgnis in der Stimme und kommt näher. „Du wirst ja ganz blass?“
„Ich weiß nicht.“ Inzwischen keuche ich regelrecht, denn mein Herz rast und mein Blut fühlt sich an, als würde es brennen! „Es ... es tut weh ... so weh!“, wimmere ich und der Allvater zieht die Stirn kraus. Eilig kommt er zu mir, legt seine Hand auf meine Schulter und blaue Nebelschwaden wabern aus seiner Haut. Sie bedecken meinen ganzen Körper wie eine kühlende Salbe und beruhigen dieses ungute Gefühl. „Was ... war das?“, frage ich beunruhigt, als der Schmerz nachlässt, und sehe ihn verwundert an.
„Nur ein Anfall von ...Weltenschmerz“, antwortet Gott und wendet sich von mir ab. „Alle reinen Wesen haben diesen ab und zu und du wirst irgendwann lernen, ihn von alleine zu überwinden! So wie auch all deine anderen ...inneren Konflikte.“
‚Davon habe ich ganz sicher eine Menge, aber Weltenschmerz? Ich war doch noch nie auf der Welt da unten? Und dann kommt das so einfach aus dem Nichts?‘
Abgesehen davon verwundert mich auch was anderes. Normalerweise sieht mich Gott immer direkt an, wenn er mich etwas lehrt. Nun aber schaut er durch die Fenster auf sein großes Wolkenplateau und scheint selbst gedanklich abwesend. „Der Unterricht ist für heute beendet“, verkündet er schließlich früher als üblich und immer noch ohne Blickkontakt zu mir. „Übe dich in der Artenkunde und lerne die neuntausendfünfhundert Ameisenarten auswendig, die ich erschuf. Erst wenn du sie kannst, komm wieder zu mir.“
‚Will er mich die nächsten zwei Monde nicht sehen?‘
Ich verkneife mir ein protestierendes Schnaufen, aber manchmal glaube ich wirklich, Gott will mich einfach nur tagelang beschäftigen, indem er mir genau solche, in meinen Augen vollkommen sinnlose Aufgaben gibt. Trotzdem antworte ich fügsam mit „Ja Vater“ und packe meine Abschriften und Bücher ordentlich zusammen.
„Guter Junge“, lobt er mich und tätschelt meine türkisblauen Haare, als wäre ich eine seiner Putten. „Ich weiß es zu schätzen, dass du so folgsam und zielstrebig bist! Ich bin mir sicher, dass du meine Aufgabe innerhalb weniger Tage meistern wirst, denn schließlich habe ich dich mit großer Intelligenz gesegnet.“
‚Und warum lerne ich dann so gut wie nichts Fundamentales?‘, möchte ich ihn am liebsten fragen, lass es aber, denn ich erinnere mich daran, dass man Gottes Befehle nicht hinterfragen darf. Darum bedanke ich mich nur für seine Zeit und verlasse das Studierzimmer.‚Sicher müssen die anderen Engel auch alles über Ameisen lernen‘, versuche ich mich wieder zu motivieren, doch es fällt mir schwer, denn seltsamerweise bin ich der Einzige, der von Gott selbst unterrichtet wird. Alle anderen Neugeborenen sitzen nur wenige Stunden am Tage zusammen in einer gemeinschaftlichen Ausbildung und lernen von Uriel, Raphael, Raguel, Michael, Sariel, Gabriel oder Remiel, den Erzengeln[Fußnote 4].
‚Na ja, ich bin eben etwas Besonderes ... das sagt Gott immer wieder, also muss das auch der Grund sein.‘
Sobald ich den frischen Wind um meine Nase spüre, atme ich durch und breite die Flügel aus. „Haaaah, wie schön!“ Es ist so angenehm, wenn mir die sanfte Brise durch die Federn weht, und