1. Kapitel | Flucht
»Das kann nicht dein Ernst sein, Cara!« Der Tonfall meiner Mutter klettert verräterisch in die Höhe, was mich reflexartig den Kopf einziehen lässt. Hilflos blicke ich zu meinem Vater hinüber, meine letzte Rettung. Doch dieser schüttelt nur enttäuscht den Kopf. Großartig, er lässt mich also auch im Stich.
»Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen?«, versuche ich, mich selbst zu verteidigen. Ich hasse es, dass meine Stimme bebt und so meine Unsicherheit offenbart.
»Du könntest zur Abwechslung mal die Zähne zusammenbeißen und dein Studium bis zum Ende durchziehen! Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder! Weißt du, wie viel Geld dein Vater und ich bisher in deine Ausbildung investiert haben, ohne dass du irgendeine Art von Gegenleistung erbringen musstest?«
Die alte Leier. Ich habe diese Art von Gespräch schon mehrfach mit meiner Mutter geführt. Jedes Mal, wenn ich den Studiengang gewechselt oder abgebrochen habe, hat sie mich mit meinem Bruder Dante verglichen. Aber nicht jeder von uns kann sich durch ein langjähriges Medizinstudium beißen. So, wie ich sie kenne, wirft sie mir als Nächstes Verantwortungslosigkeit und fehlende Reife vor.
»Du musst endlich lernen, Verantwortung zu übernehmen, und erwachsen werden! Du wirst nicht ewig herumdümpeln und den Berufswunsch alle zwei Monate wechseln können!«
Bingo.
»Jura war einfach nichts für mich«, murmle ich und verschränke die Arme vor der Brust, um mich von ihr abzuschotten.
»Jura, Kommunikationsdesign, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte … für dich kommt einfach gar nichts infrage!«, braust meine Mutter auf. Ihre schwarzen Locken wirbeln wie eine dunkle Gewitterwolke um ihren Kopf herum, während ihre braunen Augen Blitze in meine Richtung schießen. Ich wusste natürlich, dass sie nicht gerade begeistert über den erneuten Studienabbruch sein würde, allerdings habe ich nicht mit so einem starken Ausraster gerechnet.
»Tut mir leid. Ich will mir eben ein paar Möglichkeiten offenhalten«, zische ich, woraufhin sie wütend die Hände in die Hüften stemmt.Dio mio! Sie bleibt stur. Eigentlich war das ja zu erwarten. Meine Eltern arbeiten beide in sicheren Bürojobs für dasselbe Touristikunternehmen. Gewissheit und Routine sind alles, was sie brauchen, um ein zufriedenstellendes Leben zu führen. Aber ich brauche mehr! Mehr Spannung, mehr Kontakte, mehr … von allem! Ich will einfach nicht hinter einem Schreibtisch hocken und stur irgendwelche Daten abarbeiten. Ich will mir nicht während eines jahrelangen Studiums den Hintern plattsitzen. Und erst recht will ich nicht für den Rest meines Lebens tagein, tagaus das Gleiche machen.
»Du verbaust dir deine Zukunft, Cara! Denk doch mal darüber nach …«, setzt meine Mutter erneut an. In ihren Augen bin ich vermutlich eine absolute Versagerin. Bloß weil ich mit Anfang zwanzig noch keinen konkreten Plan für den Rest meines Lebens ausgearbeitet habe. Das verdammte Studium habe ich sowieso nur angefangen, um Mamma und Babbo zufriedenzustellen und weil ich keine andere Option hatte.
»Ich habe darüber nachgedacht«, unterbreche ich sie, woraufhin sie die Stirn in Falten legt. Nach und nach kriecht eine verräterische Röte ihren Hals empor und breitet sich auf ihren Wangen aus. Mein Vater weicht unauffällig ein paar Schritte zurück, als würde er die nahende Explosion bereits vorausahnen und rechtzeitig fliehen wollen.
»Du bist so ein undankbares Kind! Du weißt nichts von dieser Welt und erwartest, dass dir einfach all