Berlin Neukölln – März 2001.
Kein Aufzug.
Während ich schnaufend die Treppen in den fünften Stock des Plattenbaus hinaufsteige, denke ich noch einmal darüber nach, ob ich das, was ich gerade im Begriff bin zu tun, wirklich tun will.
Meine Mutter war eine liebevolle, großherzige Frau, die völlig unerwartet noch vor ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag verstarb. Sie hinterließ keine Sorgerechtsverfügung, die irgendwen zum Vormund bestimmte, und andere Verwandte, zu denen ich hätte gehen können, gab es leider nicht. Also wurde ich per Gesetz zu meinem Erzeuger geschickt, einem Mann, dessen Name zwar in meiner Geburtsurkunde steht, der mich aber nie als seinen Sohn angenommen hatte. Auch als ich gezwungen wurde, bei ihm einzuziehen, ließ er mich deutlich spüren, dass er mich nie wollte. Ein paar Monate hielt ich seine täglichen Wutanfälle und sein permanentes, cholerisches Gemecker aus, doch irgendwann wurde es unerträglich und ich floh auf die Straße. Nach ein paar Wochen fand ich einen Zufluchtsort bei meiner neuen Freundin, doch die hat mich dann für einen Skinhead sitzen lassen und somit war dieser dann auch dahin. Also der Schlafplatz, nicht der Skin. In den Monaten danach wurde es deutlich kälter und ich wäre mehrmals beinahe erfroren, denn die nächtlichen Temperaturen sanken bereits im Herbst auf Minusgrade. Aus diesem Grund musste ich immer wieder in einer Obdachlosenunterkunft nächtigen und dann war irgendwann der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr ging.
Diese saalartigen Räume sind mit zehn bis zwanzig Betten ausgestattet und es stinkt so extrem nach Fäkalien, dass man glauben könnte, man schliefe auf einem Bahnhofsklo! Die Hälfte der Besucher schnarcht lautstark, hustet oder röchelt, und alle zehn Minuten steht irgendwer zum Rauchen auf, knallt das Licht an oder rempelt im Dunkeln an andere Betten. Außerdem passiert es auch nicht selten, dass man morgens irgendeinen dieser Säcke hinter sich liegen hat, weil der zu besoffen war, zurückzufinden ... odereinfach nur mit jemandem kuscheln wollte. In solchen Unterkünften kriegt man also höchstens das kalte Kotzen, einenWutanfall obendrein und vielleicht auch noch eine neueKrankheit, aber definitiv keinenSchlaf!
Eigentlich hatte ich mir geschworen, nie in ein Heim oder in eine Pflegefamilie zu gehen, da ich von meinen Freunden allerlei Horrorstories darüber gehört hatte. Aber ich war das ständige Frieren und Betteln leid, konnte und wollte so auch einfach nicht mehr leben. Im Dezember kehrte ich meiner Straßen-Clique endgültig den Rücken und ging zum Jugendamt, die mich erst mal in eine Jugendschutzstelle brachten. Klar, dass meine alten Freunde das nicht verstanden und mich von diesem Schritt abhalten wollten, aber ich war so fertig, dass ich irgendwann einen Scheiß auf deren Meinung gab. In der Notunterkunft für Jugendliche blieb ich fast zweieinhalb Monate, zusammen mit zehn anderen abgewrackten Teenies, mit denen ich sogar ganz primitiv Weihnachten feierte. Mein Aufenthalt dort war deutlich länger als geplant, aber die Wohngemeinschaften der Berliner Heime sind alle voll und freie Pflegestellen gab es auch keine ... bis jetzt.
Keuchend erreiche ich eine abgeschrabbelte Tür, die mit halb abgerissenen Aufklebern übersät ist, und schiebe mir verschwitzt einige Strähnen meines hochgegelten, leuchtend grünen Kurt Cobain Nichthaarschnitts hinter die Ohren.
Auf dem Türschild stehtSchnatz, in geschwungenen Buchstaben mit einem lila Schmetterling darüber. Dreckige Schuhe liegen im Hausflur, einige davon haben eine ähnliche Größe wie meine und dazwischen stehen hochhackige Stiefel.
»So, da wären wir!«, japst auch Hannah, die Sozialarbeiterin, die mich die letzten Tage betreut hat und mit der ich gestern noch den Übergangsbogen durchgegangen bin. Ich versuche, meine rasselnde Lunge zu beruhigen, und stelle aufgeregt meine Tasche ab. Dumpfe, raue Stimmen sind zu hören, als würden sich zwei streiten, doch ich kann nicht zu hundert Prozent sagen, ob das aus der Nachbarwohnung oder aus der vor uns kommt.
Ein ungutes Gefühl steigt in mir auf.
Hannah ringt sich