Einleitung
Zum Jahrtausendwechsel befand sich der jüdische Staat an einem Scheideweg seiner zionistischen Geschichte. Denn er war konfrontiert mit tiefen Widersprüchen bezüglich der Identität der Immigranten-Siedler-Gesellschaft, des Staatsverständnisses, der politischen Kultur des Landes sowie der Frage des Selbstbildes einer quasi offenen Gesellschaft und pluralistischen Demokratie. So verdichteten sich im Jahr null des neuen Millenniums sämtliche Kernprobleme des zionistischen Israel bis hin zur geschichtsträchtigen, beispiellos blutigen Auseinandersetzung mit den Palästinensern. Ende September 2000 brach die Zweite Intifada aus. Sehr bald geriet dieser Volksaufstand zu einem präzedenzlosen, neuen Krieg zwischen Israel und den Palästinensern. Dieser fünfjährige Waffengang (2000−2005) – so wird das vorliegende Buch zeigen – prägte Israels Politik, dessen politische Kultur und schrieb damit Zeitgeschichte. Er führte zu einem Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft und dem Kollaps des Friedenslagers, und somit zum Untergang des in der politischen Gesellschaftsordnung gewichtigenLinkszionismus. Dadurch wurde der Weg für ein neues Phänomen geebnet, nämlich die Bewegung desNeozionismus. Nach dem rasanten Kollaps der linkszionistischen Regierung Ehud Barak (1999−2000), welche die Regierung Benjamin Netanjahu (1996−1999) abgelöst hatte, dominierten in Jerusalem rechtszionistische Regierungen unter Ariel Sharon (2001−2006), Ehud Olmert (2006−2009) und Benjamin Netanjahu (2009−2021).1
Der vorliegende Ansatz stellt die zeithistorische Frage nach der Bedeutung der Zweiten Intifada für Israel im neuen Jahrtausend. Er fragt nach der Wirkmächtigkeit des schicksalhaften Jahres 2000 auf Israels Politik, Geschichte und politische Kultur. Mit dem Ziel, den israelischen Zeitgeist in dieser Zeitgeschichte zu erfassen, sucht er, die Veränderungen in Staatsbild, Selbstbild und Feindbild besser zu verstehen. Der Ansatz übt Ideologiekritik, wobei Israelszionistische Staatsideologie den Dreh- und Angelpunkt der Analyse darstellt. Deren Kern ist jedoch nicht der historische Zionismus, sprich dieIdee eines jüdischen Staates, sondern dergelebte Zionismus in der de facto binationalen Demografie inEretz Israel/Palästina.
Die Analyse in diesem Buch ergibt drei Schlüsselbegriffe:Okkupation, Zivilmilitarismus undNeozionismus. Dabei stützt sie sich auf den geschichtsphilosophischen Ansatz des deutschen Hermeneutikers und Philosophen Hans-Georg Gadamer: »Der wahre historische Gegenstand ist kein Gegenstand, sondern […] einVerhältnis, in dem die Wirklichkeit der Geschichte ebenso wie Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens besteht.«2 Eben in der spezifischenVerflechtung dieser drei Phänomene in der israelischen Ordnung findet sich ein Schlüssel für ein fundiertes Israel-Verständnis im neuen Jahrtausend. Doch während »Zivilmilitarismus« und »Neozionismus« im inner-israelischen Mainstream-Diskurs ohnehin kaum Verwendung finden, verliert in den letzten Jahren auch »Okkupation« als politischer Begriff zunehmend an Relevanz. Indessen geben gerade diese Begriffe in der kritischen Analyse der israelischen Zeitgeschichte einen erhellenden Aufschluss für eine meist schwer nachvollziehbare kulturpolitische Ordnung.
Okkupation (Hebr.Kibusch), sprich die israelische Besatzungsordnung in den 1967 eroberten palästinensischen Gebieten, wurde nach der Ersten Intifada der Jahre 1987−1993 sukzessive politisiert, allen voran vom Linkszionismus. Dieses große Lager, das sich um die historisch dominante oftmals regierende Arbeitspartei herausgebildet hatte, drängte Anfang der 1990er Jahre immer mehr darauf, den als Anomalie, als Abweichung vom zionistischen Staatsprojekt begriffenenKibusch aufzuheben. Deshalb setzten die Link