: Ana Marwan
: Verpuppt
: Otto Müller Verlag
: 9783701363025
: 1
: CHF 17.70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 220
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Rita findet sich nicht zurecht in der Welt. Ihr Leben lang hat sie sich in Genügsamkeit und Akzeptanz geübt; früh kommt sie zu der Erkenntnis, dass sich Träume oder Dinge, die verlorengehen, durch andere ersetzen lassen. Durch Beobachtung stellt sie fest: Der Mensch ist ein Gefäß, in das über die Jahre alles hineinkommt von außen - Meinungen, Verhaltensweisen, Gesten... Das Leben betrachtet sie als eine reine Aneinanderreihung von Spielchen; je nach Situation wird diese oder jene Version der eignen Person zur Schau gestellt und vor sich hergetragen. Was aus ihr werden soll, weiß sie nicht. Um das Chaos ihrer Welt zu bändigen, schreibt sie Geschichten, gestaltet Wahrheiten, erfindet sich Gefährten wie Ivo Je?, der - wie sie - im Ministerium tätig ist, Abteilung Raumfahrt. Oder handelt es sich um eine andere Art von Einrichtung und Ivo ist ein Mitpatient? Wird Rita therapiert oder wird die Ärztin von Rita manipuliert? Ist der freie Mensch frei oder ist derjenige ohne Zwang, dem die Entscheidungen abgenommen werden? 'Jede Geschichte ist eine Gewalt an die Wahrheit', schreibt Rita einmal. Verstehen wir dies als Einladung, den Wahrheitsgehalt der erzählten Geschichte infrage zu stellen.

Marwan, Ana   Angaben zur Person: 1980 in Murska Sobota/SLO geboren, aufgewachsen in Ljubljana. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Ljubljana und der Romanistik in Wien. Schreibt Kurzgeschichten, Romane und Gedichte auf Deutsch und Slowenisch. Ausgezeichnet mit dem exilliteraturpreis'schreiben zwischen den kulturen' 2008, dem 'Kriti?ko sito' 2022 für das beste Buch des Jahres 2021 in Slowenien und dem Ingeborg-Bachmann-Preis 2022. Lebt als freie Autorin in Wien.

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Es dauerte eine ganze Weile, bis die Einsamkeit, die Jež umgab, auch in sein Inneres eingedrungen war und die Boshaftigkeit fast vollkommen aus ihm vertrieben hatte. Er selbst würde, obwohl sie weg war, noch immer nicht zugeben, dass es sich um Bosheit gehandelt hatte. Wut, Hass, Schadenfreude – das hätte er akzeptiert. Aber wenn diese aus dem Widerstand gegen das menschliche Böse entstehen, kann doch von Boshaftigkeit keine Rede sein.

Wie dem auch war, in seinen vier Wänden wurde Jež wieder unschuldig, unschuldig wie im Mutterleib. Es half, dass er still war. Normalerweise sagte er auch während des Arbeitstages nicht mehr als Guten Tag, Guten Appetit, Frau Lah, Bitte sehr, Entschuldigen Sie, Danke, Macht nichts, Erlauben Sie, Zum Wohl, Auf Wiedersehen. Nur schöne Worte.

So lässt sich allerdings nicht lange leben, in der Haltung eines Fötus, in Unschuld. Aber warum sollte er mit dem Kopf durch die Wand, er würde sich dem natürlichen Lauf der Dinge überlassen, dachte er sich jeden Tag aufs Neue, wenn er vom Dienst kam, den Morgenmantel überzog und auf der Couch und später im Bett las, bis er einschlief, oder einfach aus dem Fenster auf die Pappel starrte, die manchmal unter seinem Blick erzitterte.

Ja, es war eine Pappel. An einem Punkt ihres Wachsens, vor langer Zeit, hatte Jež zu seiner Frau gesagt: „Wie schnell der Baum wächst! Wie ein Vogel steigt er auf zum Himmel“, und seine Frau hatte geantwortet: „Pappeln wachsen schnell.“ Daraus hatte er geschlossen, dass dieser Baum eine Pappel war. Andere Bäume blieben Bäume. Seine Mutter hatte ihm nie beigebracht, zwischen Bäumen zu unterscheiden, so wie Mütter kleinen Inuitkindern beibringen, zwischen den Schneearten zu unterscheiden. Ježens Mutter hatte Bäume nicht für das gehalten, was sie am meisten umgab. Alles andere ehe