Kapitel 2
»Wurzelchen«. Hmpf.
»Chefsache«. Pff.
Unzufrieden starre ich zuerst die Tür und dann die Zimmerdecke an. Ich erinnere mich jetzt wieder. Ringel hat mich darüber aufgeklärt, dass mein Dad gar kein Hausmeister ist, sondern magische Waldwesen behandelt. Von wegen Hausmeister – er ist ein medizinischer Berater – für Fragen rund um mythologische Kreaturen aus aller Welt. So was wie ein Spezialtierarzt, schätze ich also. Ausgerechnet mein Dad, der ohne mich keinen Nagel in die Wand bekommt, ohne sich den Daumen blau zu hauen, und der nicht mal Blut sehen kann. Wer hätte das gedacht – ich jedenfalls nicht. War das etwa alles nur Tarnung? All die Jahre meiner Kindheit?
Ein leises Klopfen am Fenster lenkt mich ab. Dort stemmt sich eine Kröte auf ihren kurzen Hinterbeinen an der Glasscheibe hoch und zeigt mir ihre helle Bauchunterseite.
»Runzelige Koralle, Penelope!«, rufe ich glücklich und befreie mich umständlich von der festgesteckten Bettdecke. Die kurze Strecke bis zum Fensterbrett werde ich doch wohl schaffen, oder? »Gib mir nur zwei Minuten. Ich komme.«
Die kleine Wechselkröte ist seit der ersten Minute in Ashwood meine Freundin. Und Gedanken lesen kann sie auch, genau wie ich offenbar neuerdings – zumindest funktioniert das, was Penelope und Wanda angeht. Wanda ist Zoes Gleithörnchen.
»Nein, ich finde dich überhaupt nicht runzelig, bezieh doch nicht immer alles auf dich … Was soll das heißen, ich wäre eine lahme Kröte? Das ist ziemlich unhöflich, findest du nicht? … Krötenhumor? … Sehr witzig, ha, ha … Ja, natürlich liegt das am Sirup!«
Empört halte ich in der Bewegung inne, froh, am Bettpfosten durchatmen zu können. Die ersten dreißig Zentimeter sind schon mal geschafft. Ich fühle mich noch genauso wackelig wie vorhin. Mein Fuß pocht, mein Kopf auch.
»Schneckenförmiger Öhrling!«, schnaufe ich und schließe kurz die Augen, weil sich alles dreht. Ich bin wirklich eine lahme Kröte.
Die kleine Wechselkröte trillert amüsiert.
»Nicht lustig, Penelope!«
Ich muss das bei der Gelegenheit noch mal kurz erklären: Von meinem Dad habe ich einen Spleen übernommen: Als ich sprechen lernte, ging er dazu über, Pilznamen zu fluchen. Er meinte, wenn Kinder schon etwas nachplappern, dann sollten sie dabei auch etwas lernen. Das habe ich! Der Schneckenförmige Öhrling etwa, kurz Schneckenöhrling, heißt lateinischOtidea cochleata. Das ist ein schwach giftiger, in Büscheln zwischen Laub und Moos, aber auch auf Brandstellen in Wäldern vorkommender Pilz. Auf den ersten flüchtigen Blick sieht er aus wie ein weggeworfener, zerknüllter und feucht gewordener Lederlappen. Und bei genauerem Hinsehen ähnelt er lauter kleinen Schüsselchen mit eingerollten Rändern.
Fast alle von Dads Fluchpilzen sind giftig. Aber die meisten sehen bizarr bis wunderschön aus – zumindest in den Augen eines Nerds, wie mein Vater einer ist. Irgendwann habe ich seine Art zu fluchen übernommen. Es ist ein Familien-Insiderscherz, sozusagen. Schon komisch, dass ich nie infrage gestellt habe, wieso sich ein Hausmeister in der Großstadt so fantastisch mit Pilzen auskennt.
»Leg dich wieder hin!«, höre ich auf einmal eine Stimme von draußen, und dann taucht Benu hinter Penelope auf. Mit geschickten Fingern schiebt er das Fenster auf und quetscht sich gleich nach der Kröte herein.
»Wieso benutzt du nicht die Tür?«, frage ich und taumle erleichtert von meinem Bettpfosten zurück zu meiner Matratze. »Und müsstest du nicht in der Schule sein?«
»Der Nachmittagsunterricht ist schon längst vorbei«, sagt er, schiebt seine Hoodiekapuze zurück und grinst mich an. Seine dunkelbraunen Augen mit den goldgrünen Sprenkeln glitzern. »Die haben nach dem Trollangriff einen Hochsicherheitstrakt aus der Academy gemacht. Außerdem wusste ich nicht, wie Mrs Claybottom zu Kröten im Krankenzimmer steht.«
»Wieso, wie spät ist es denn?«
Reflexartig will ich nach meinem Handy greifen, aber es liegt nicht auf dem Nachttisch. Stimmt ja. In Ashwood gibt es kein Internet, und Handys sind sowieso verboten