Dieses Buch ist dem unerlaubten Fernbleiben von der Schule gewidmet. Der Volksmund nennt dieses Phänomen «Schuleschwänzen», die Fachwelt bezeichnet es als «Schulabsentismus». Zwar ist Schulabsentismus ein pädagogisches Unwort, aber es ist nicht sachlich grob oder unangemessen. Schulabsentismus umfasst weit mehr als nur das traditionelle Schuleschwänzen, nämlich all die vielfältigen Formen unerlaubten Fernbleibens von der Schule. Dazu gehören die Schulverweigerung, das Zurückhalten des Kindes durch die Eltern, das Schwänzen einzelner Lektionen oder das Fehlen mehrerer Tage oder Wochen inklusive dessen gelegentliche Legitimation durch ein Arztzeugnis. Den Schuleschwänzern nehmen sich neuerdings insbesondere die Medien mit teils reißerischen Titeln an. Sie behaupten, dass die Zahl der Schuleschwänzer riesig sei, viele von ihnen in die Kriminalität abdriften würden und Schulabsentismus damit ein direkter Weg ins Abseits sei. Auch viele Publikationen zeichnen ein äußerst düsteres Bild der schwänzenden Kinder und Jugendlichen. Vom zukünftigen Leben in Randständigkeit und sozialer Abhängigkeit ist die Rede, von ihrem äußerst schwierigen Übergang von der Schule in die Berufswelt, von Desintegration und insbesondere auch von ihrem Hang zur Delinquenz. Solchen Behauptungen gelingt es zwar, das öffentliche Bewusstsein für diese bislang wenig beachtete Problematik zu schärfen und auch das Tabu zu brechen, indem Schuleschwänzen nicht mehr verschwiegen wird. Aber solche Behauptungen übermitteln damit der Gesellschaft die verdeckte Botschaft, als seienalle Schuleschwänzer Problemfälle, und eine kriminelle Laufbahn sei vorprogrammiert. Das Schuleschwänzen wird damit zu Unrecht zu einem skandalisierten und kriminalisierten Verhalten einer ganzen Generation emporstilisiert. Gleichzeitig entsteht dadurch der Eindruck, als ob die Zahl der Schuleschwänzer in den letzten Jahren massiv gestiegen sei. Das wissen wir jedoch nicht. Denn dazu liegen keine repräsentativen empirischen Daten vor, welche diesen Sachverhalt bestärken könnten. Gleiches gilt für Präventions- und Interventions-programme. Wir wissen wenig darüber, welche Programme eingesetzt werden und wie erfolgreich sie sind.
Richtig ist, dass das Schuleschwänzen ein falsch eingeschätztes Problem darstellt. Weder in den Schulen noch in den Bildungsverwaltungen wird es als Problem wahrgenommen oder offen diskutiert, und auch Eltern scheinen es über weite Strecken als legitimes Verhalten zu akzeptieren – und wie wir noch sehen werden, manchmal sogar zu unterstützen. Die am häufigsten gehörte Antwort von Schulen auf unsere Frage nach ihrem Umgang mit Schuleschwänzern ist etwa die: «Bei uns ist Schuleschwänzen kein Problem. Wir haben ein klares System und eine gute Schulordnung, die Schwänzen verhindern. Vor Jahren hatten wir einmal einen Schüler, aber das war ein ganz gravierender Fall.» Schuleschwänzen wird somit großenteils als geringfügige Störung des täglichen Schulbetriebs angesehen und nach außen hin tabuisiert. Viele Schulen verstecken sich oft hinter der formalen Schulordnung und hinter der Funktionalität ihrer Institution. Vielleicht ist das Nicht-Hinschauen aber auch eine Möglichkeit, um den Glauben aufrecht zu erhalten, dass es an der eigenen Schule keinen Absentismus gibt und sich deshalb jede präventive oder interventive Aktivität erübrigt.
Tatsache ist, dass Schüler die Schulpräsenz bei weitem nicht so ernst nehmen, wie wir uns dies wünschen würden. Schuleschwänzer führen uns deshalb auf ein Thema, das aus einem anderen Blickwinkel Fragen der Schulqualität aufwirft: Schuleschwänzer ernst nehmen, heißt Schule und Schulpflicht ernst nehmen. Die Schulpflicht wurde für das Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft eingeführt. Deshalb muss der Stellenwert der Schule dem einzelnen Schüler auf spezifische Weise ersichtlich gemacht werden.