Dazu haben wir gleiches Blut und gleiche Sprache mit den Griechen, die gleichen Heiligtümer und Opfer, die gleichgearteten Sitten. Es wäre nicht anständig, wenn wir dies alles verraten wollten.88
Herodot
Laut der oben angeführten Umfrage von Eurostat (EB 68) gehört für 16 Prozent der Europäer die »Toleranz« zu den drei Werten, die für sie persönlich am wichtigsten sind, und für 10 Prozent von ihnen zählt sie zu den drei für die Europäische Union richtungsweisenden Wertvorstellungen. Und tatsächlich ist in der Geschichte der Menschheit die Toleranz des jeweils »Anderen« ein herausragendes Merkmal für das Erreichen einer gewissen Zivilisationsstufe. Ihre Einordnung unter die Leitwerte einer staatlichen Institution ist also ein äußerst aussagekräftiges Kennzeichen89 – doch aussagekräftig wofür?
Die Herausbildung einer ersten Form kollektiver Identität beginnt in der Urgeschichte der Menschheit in dem Moment, in welchem sich der Einzelne mit der erweiterten ethnischen Gruppe identifiziert, der er durch familiäre Abstammung zugehört, und dementsprechend all diejenigen, die ihr verwandtschaftlich nicht angehören, als »Andere« ausgeschlossen werden. Identität ist also untrennbar verbunden mit Mechanismen von Ein- und Ausschluss, denn »durch ihre Identität definieren Menschen sich selbst und unterscheiden sich von anderen«,90 wie der Psychologe Donald E. Polkinghorne treffend definiert. Menschliche Gesellschaften basieren somit auf der Familie, dem Stamm und später dem Volk, das als ethnische Einheit sich ursprünglich auf die Annahme blutsmäßiger Verwandtschaft im weitesten Sinne gegründet hat und später ihr Fortleben durch Verweis auf die allen gemeinsame Sprache sichert. Selbstverständlich hat nun jede Kultur, sobald sie sich nach außen hin öffnet und in Kontakt zu anderen Gesellschaften tritt, ein reges Interesse daran, eine gewisse Duldung oder Toleranz dem »Anderen« gegenüber zu entwickeln, damit so ein geregeltes Verhältnis zu den sich dabei ergebenden kulturellen Mischformen entsteht. Sie muss deshalb die Ausschließlichkeit ihrer eigenen kulturellen Identität zumindest teilweise relativieren, um diese Öffnung nach außen aufrechtzuerhalten. Doch befindet sich eine Gesellschaft bereits in einem Stadium, in dem aus der Duldung des »Anderen« allmählich dessen Idealisierung geworden ist, während vorsichtige Selbstabgrenzung bereits mit einem Akt der Feindschaft verwechselt wird, müssen selbst die einfachsten Versuche, kollektive Identität überhaupt definieren zu wollen, als politisch unkorrekt erscheinen, da die entsprechenden staatlichen Institutionen sich nur noch für die Garantie der Autonomie des Einzelindividuums verantwortlich fühlen, nicht aber für das Überleben der durch sie ursprünglich gebildeten kulturellen Gruppie