»Die sind ja jesuitischer als die Jesuiten«
Jörg Alt
»Liebe Grüße, Henning Hungerstreikender« stand am Ende der E-Mail vom5. September2021. Das war mein erster Kontakt mit Henning. Seitdem ich2019 dieFridays for Future in Nürnberg entdeckt habe, ist der Klimawandel zu einem meiner Hauptthemen geworden. In meinem Leben und im Orden hatte ich schon immer zwei Rollen: die eines Wissenschaftlers und die eines Interessenanwaltes, wie man das bei uns in der Gemeinschaft übliche Wort »advocacy« übersetzen kann. Früher ging es mir vor allem um Menschen in Flucht und Illegalität, Kampagnenarbeit kenne ich durch die Antilandminenkampagne und die zur Finanztransaktionssteuer. Auf den Hungerstreik im Herbst2021 bin ich früh aufmerksam geworden. Mir fiel auf, dass die Gruppe ihre Forderungen immer nur über Pressemeldungen kommunizierte. Weil ich in diesem Feld Erfahrung habe, bot ich an, direkte Kontakte zu den Kanzlerkandidat:innen zu vermitteln, denn nur so kommt man weiter. Es war mir ein Anliegen, mitzuhelfen, dass sie überhaupt zugeben: »Ja, wir haben zur Kenntnis genommen, dass diese Gruppe dort ist und dass sie mit uns ins Gespräch kommen will.«
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Jörg Alt ist1980 als sogenannter Interessent zu den Jesuiten gekommen. Sein Ausbilder gab ihm gleich zu Beginn ein heute berühmtes Dekret zu lesen.1974 hatte das höchste Gremium des weltweiten Jesuitenordens den eigenen Auftrag neu definiert und unter der Überschrift ›Dienst am Glauben und Förderung der Gerechtigkeit‹ verabschiedet. Die Jesuiten nennen diesen Beschluss auf ihrer Webseite einen Paukenschlag, der von großen Spannungen begleitet gewesen sei.
Jörg Alt wusste nichts von einem Paukenschlag, aber er wusste, dass das nach einem Rahmen klingt, in dem er leben könnte. Heute weiß er: »Deswegen bin ich Jesuit geworden.«
Sich als Ordenspriester politisch engagieren zu dürfen, war dann ein langer Weg. DieCSU in Bayern für den Umgang mit Asylsuchenden zu kritisieren zu dürfen, musste in den Anfängen genauso erkämpft werden wie ein Besuch der katholischen Grünenpolitikerin Christa Nickels bei einem Ordenstreffen. Dass heute der globale Blick auf Ungerechtigkeit und das Eintreten für Gerechtigkeit zum Ordensleben gehört, liegt auch an einem Meilenstein im Jahr2008. Damals hat die Generalversammlung in Rom sich zum ersten Mal »Advocacy« zu eigen gemacht, also das öffentliche Eintreten für Menschen, die gewöhnlich keine Fürsprecher haben. Wenn Jörg Alt sich heute mit den Zielen und dem zivilen, gewaltfreien Vorgehen derLetzten Generation solidarisiert, z.B. in Form von Straßenblockaden, unterstützen ihn viele aus der Ordensspitze in Rom und aus den verschiedensten Kontinenten. So steht es auf der Homepage der Zentraleuropäischen Jesuiten: »Neben Alt unterstützen weitere hochrangige Jesuiten aus dem Bereich ›Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit‹ die Proteste, wie der Orden mitteilte. Darunter seien der Leiter des Sekretariats Soziale Gerechtigkeit und Ökologie an der Generalskurie in Rom, Xavier Jeyaraj, der Direktor des Jesuit Justice and Ecology Network Africa, Charles Bwayla Chilufya, der Direktor des Development Office der Jesuit Conference India-South Asia, Siji Chacko, sowie Pedro Walpole, Director of Research des Instituts Environmental Research For Social Change auf den Philippinen.«3
Lehr- und Wanderjahre.Oder wie nimmt man politisch Einfluss?
Den Weg zu dieser Haltung gestaltet Jörg Alt beharrlich mit. Die Anfänge seiner eigenen politischen Reise liegen in den1980ern. Damals arbeitet er bei einer Beratungsstelle für Asylbewerber des Diözesan-Caritasverbands Würzburg und gründet einen Freundeskreis für ausländische Flüchtlinge im Regierungsbezirk Unterfranken.
»Als ich angefangen habe mit Flüchtlingen zu arbeiten, habe ich relativ schnell gesagt: es bringt ja nichts weiter, Essen oder Kleider umzutauschen, sondern es geht darum, die Essenspakete abzuschaffen und die Sachleistungsverpflegung durch Gutscheine oder Bargeld zu ersetzen. Aber das kann man nur, indem man Kampagnen macht und Politiker nervt. Die politische Dimension humanitärer Arbeit war mir früh bewusst.«
Kampagnen und Politiker:innen nerven – genau das macht Jörg Alt in seiner Zeit in Würzburg, weil für ihn die offizielle politische Einflussnahme der Kirche zu kurz greift.
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Zu meinem Glück setze ich nach meinem Praktikum in Würzburg mein Studium in London fort. Am Heythrop College der University of London kann ich in ganz kleinen Gruppen studieren, diskutieren, meinen Neigungen nachgehen und meinen Horizont erweitern.
Als ich mit meinem Bachelor aus London zurückkomme, ist die Welt in Deutschland eine andere. Die Wende, die friedliche Revolution von1989, hat stattgefunden. Ich will den für den Westen neuen Teil erleben und gehe nach Leipzig, habe dort in der Pfarrei St. Georg eine Halbtagsstelle als Kaplan. Den Rest meiner Zeit bin ich als Ausländerbeauftragter für das Katholische Dekanat Leipzig tätig und arbeite im Sächsischen Flüchtlingsrat mit.
Diese meine ersten Leipziger Jahre lehren mich viel über Menschen, die komplett im Schatten leben. Menschen, ohne die unsere Wirtschaft nicht funktionieren würde. Das wird noch wichtig werden. Aber zunächst nimmt mein Leben eine völlig andere Wendung. Erst mal kommen Landminen auf mich zu.
Der Friedensnobelpreis
Als Ordensmensch habe ich nicht nur ein Leben in Armut und im Zölibat versprochen, sondern auch eines im Gehorsam. Bei den Jesuiten ist Gehorsam immer dialogisch, wir werden einbezogen, wenn es darum geht, was unsere nächst