1. KAPITEL
Er war den Anblick von Unordnung gewohnt, zum Beispiel auf seinem Schreibtisch an der Universität. Aber dabei handelte es sich eher um ein Chaos mit System. Christopher Culhane hätte ohne zu zögern den Platz fast aller Bücher seiner umfangreichen Bibliothek benennen können, ganz egal, ob es sich um Mathematik- und Physikbücher handelte oder um Notizen, die er in den letzten sechs bis neun Monaten angefertigt hatte.
Aber hier, dachte er und sah sich in dem Raum um, der vermutlich ein Wohnzimmer sein sollte, sieht es aus, als wäre ein Tornado hindurchgefegt.Ach! Noch viel, viel schlimmer!
Er hatte immer gewusst, dass seine jüngere Schwester Rita nicht besonders ordentlich war. Als kleines Mädchen war sie unfähig gewesen, in ihrem Zimmer auch nur so etwas wie einen Anschein von Ordnung zu wahren, obwohl ihre Mutter immer wieder darum bat und deswegen drohte. Aber verglichen mit dem Anblick hier war Ritas Kinderzimmer geradezu makellos gewesen.
Wie konnte ein normaler Mensch nur so leben? Die Antwort darauf machte Chris umso schmerzlicher bewusst, welche Probleme auf ihn zukamen.
Er unterdrückte einen Seufzer und rieb sich erschöpft das Gesicht. Die letzten sechsunddreißig Stunden waren emotional höllisch anstrengend gewesen. Er konnte nur hoffen, dass er so etwas nie wieder durchmachen musste.
„Geht es dir gut, Onkel Chris?“, hörte er die helle, aber ungewöhnlich reif klingende Stimme seines Neffen, in der nackte Angst mitschwang.
Ricks Besorgnis war offenkundig. Der Junge war klein und zart für sein Alter, wodurch er jünger wirkte als fünf Jahre, aber sobald er den Mund öffnete, strafte er diesen Eindruck Lügen. Er hörte sich an wie ein alter Mann, der im Körper eines Kindes gefangen war.
„Du hast doch nicht etwa Kopfschmerzen oder so?“, fragte Rick mit sorgenvoll geweiteten Augen.
Chris schüttelte den Kopf. „Nein.“
Wenn man bedachte, was der Junge alles hatte durchmachen müssen, war seine Frage durchaus berechtigt. Genauso wie die Angst, die sich dahinter verbarg. Nach Ricks Schilderung der Ereignisse hatte seine Mutter über wahnsinnige Kopfschmerzen geklagt, bevor sie zusammengebrochen war.
Doch anders als sonst war sie diesmal nicht nur vorübergehend durch Alkohol- oder Drogeneinfluss außer Gefecht gesetzt gewesen. Diesmal öffnete Rita Johnson die Augen nämlich nicht wieder, ganz egal, wie heftig Rick seine Mutter schüttelte oder wie oft er sie anflehte aufzuwachen.
Abgesehen von den sehr starken Kopfschmerzen war die Gehirnblutung ohne Vorwarnung aufgetreten.
Es war Rick, der den Notarzt angerufen hatte, und Rick, der dem Polizisten im Krankenhaus erzählt hatte, dass der Bruder seiner Mutter in der Gegend lebte. Der Junge hatte mit düsterer Miene hinzugefügt, dass seine Mutter keine Besuche von Onkel Chris wollte. Sie hatte immer gesagt: „Mein Leben passt ihm nicht!“
Chris hatte von Ritas Tod kurz nach Seminarschluss erfahren. Die Assistentin des Dekans hatte ihm einen Zettel überreicht, auf dem stand, dass er Dr. MacKenzie im Blair Memorial Hospital zurückrufen solle. Es ginge um seine Schwester.
Seine Hände waren eiskalt gewesen, als er die Nummer auf dem Zettel gewählt hatte.
Und von da an war alles nur noch schlimmer geworden.
Es war fast drei Jahre her, dass er Rita das letzte Mal gesehen hatte, was jedoch nicht seine Schuld gewesen war. Mit lallender Stimme, aber doch unmissverständlich, hatte sie damals schreiend gefordert, dass er aus ihrem Haus und ihrem Leben verschwinden solle, da sie auch ohne seine ständige Missbilligung schon genug Probleme am Hals habe.
Vernünftig mit ihr zu reden war unmöglich gewesen. Chris hatte sich damit begnügen müssen, manchmal heimlich an ihrem Haus vorbeizufahren, um einen Blick auf seinen Neffen werfen zu können und sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging.
Dafü