1. KAPITEL
„Da! Da ist er! Genau auf den haben wir gewartet. Los! Drück schon ab, du lahme Ente, ehe er weg ist!“ Eine Sekunde, bevor der Vogel aufflog und über das kristallklare Wasser entschwand, hatte sie ein Bild von ihm geschossen. „Ha! Du glaubst doch wohl nicht, ich würde dich entwischen lassen?“
Plötzlich durchfuhr es Kayla Young siedend heiß. Sie hatte schon wieder mit sich selbst geredet. Wenn sie nun jemand gehört hatte! Sie wirbelte herum, dass ihre Haare flogen. Niemand war zu sehen! Erleichtert seufzte sie auf und strich sich die langen blonden Strähnen aus dem Gesicht. Auf dem steinigen Gebirgshang befand sich außer ihr keine Menschenseele. Es gab nur den warmen Wind, die karge Vegetation, die gnadenlose Sonne am tiefblauen Himmel und am Fuße des Hanges den endlosen Kieselstrand. Beruhigt ließ sie die Schultern sinken.
Wann hatte sie eigentlich angefangen, mit sich selbst zu sprechen? Vielleicht war es ein Fehler gewesen, allein hierherzukommen. Auch wenn sie es für das Beste gehalten hatte, auf einer einsamen Insel zu sein, während der Mann, mit dem sie eigentlich den Rest ihres Lebens verbringen wollte, in England gerade eine andere heiratete.
Die Wunde, die dieser Verrat bei ihr geschlagen hatte, schmerzte nicht mehr ganz so stark. Die Narbe war jedoch geblieben. Als wolle Kayla dem Schicksal die Stirn bieten, hob sie die Kamera erneut vors Auge. Lediglich die zusammengepressten Lippen verrieten ihre Anspannung, während sie die wundervolle Landschaft durch die Linse der Spiegelreflexkamera betrachtete: die dunstverhangenen Berge, die schimmernde Wasseroberfläche, den erstaunlich muskulösen …
Eigentlich hatte sie einen Kameraschwenk ins Landesinnere machen wollen, aber jetzt richtete sie das Objektiv mit einem Ruck zurück auf den Strand. Dann ließ sie die Kamera sinken, denn auch ohne Zoom konnte sie den Mann deutlich sehen.
Er hatte rabenschwarzes Haar, das in wilden Locken auf seine Schultern fiel. In ausgeblichenen Jeans und einem schwarzen T-Shirt lud er das Angelgerät aus seinem Holzboot. Anscheinend hatte er gerade erst angelegt. Aus seinen muskulösen, braun gebrannten Oberarmen und der Art und Weise, wie das T-Shirt über seinem Oberkörper spannte, schloss Kayla, dass er an harte körperliche Arbeit gewöhnt war. Direkt unter ihr, an der Straße oberhalb des Strandes, parkte ein ramponierter Truck. Als der Mann auf den Wagen – nein, aufsie zuging, konnte Kayla die Augen nicht von ihm abwenden.
Ohne zu wissen, was sie tat, hob sie die Kamera, um ihn näher heranzuzoomen. Auf ihrem heimlichen Beobachtungsposten fühlte sie sich sicher und war gleichzeitig seltsam aufgeregt. Deutlich konnte sie den Dreitagebart in dem markanten Gesicht erkennen. Die herben männlichen Gesichtszüge zeugten von einem Leben, dem es an Herausforderungen bestimmt nicht mangelte. Er schien nicht viel älter als dreißig zu sein – ein Mann, dessen entschlossener Gesichtsausdruck verriet, dass er genau wusste, was er wollte, und es wohl auch bekam. Mit langen Schritten kam er über den Strand, und Kayla entdeckte noch mehr in seiner Körperhaltung, seiner Miene: Stolz und eine Spur Arroganz.
Diesen Mann sollte man sich nicht zum Feind machen, dachte sie und erschauerte ein wenig. Durch die Kameralinse konnte sie jedes Detail seines attraktiven Gesichts deutlich erkennen – den sonnengegerbten Teint, die unwillig gerunzelte Stirn, als er …
Oh mein Gott! dachte sie erschrocken. Er schaut hierher! Er hat mich entdeckt und gesehen, dass ich die Kamera direkt auf ihn halte!
Vor lauter Nervosität drückte sie auf den Auslöseknopf, und ein Blick auf das Display bewies ihr, dass sie den Mann abgelichtet hatte. Offensichtlich hatte auch er es registriert, denn er rief ihr etwas zu. Sie erstarrte, als er seine Schritte beschleunigte und mit finsterer Miene auf sie zustreb