1. KAPITEL
Josie Whitaker schlich sich auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer.
Eigentlich war das gar nicht notwendig, denn die winzige Zwillingsschwester weinte so ohrenbetäubend, dass es an ein Wunder grenzte, wie ihr Brüderchen dabei friedlich weiterschlafen konnte.
Allerdings galt Josies Sorge in diesem Augenblick weder dem sechs Monate alten Lucas noch der kleinen Lilly. Vielmehr sorgte sie sich um die erschöpfte Mutter. Josies Schwägerin Rebekah wirkte seit einigen Tagen wie ein Zombie. Die Art ausgezehrter, schlafloser, augenringtragender Zombie, der jeden Moment zusammenklappen könnte.
Die junge Mutter saß im Kinderzimmer in dem Schaukelstuhl, den Josies jüngerer Bruder Grant ihr geschenkt hatte. Geistesabwesend wiegte sie ihre kleine Tochter, die sich trotz der liebevollen Fürsorge langsam in einen Schreikrampf hineinsteigerte. Bald würde sie damit auch noch ihren Bruder aufwecken.
Lautlos wie eine Katze näherte sich Josie dem Schaukelstuhl und legte sanft die Hände auf Rebekahs Schultern. Rebekah zuckte zusammen, nur um gleich darauf wieder müde in sich zusammenzusinken.
Erst vor wenigen Tagen hatte Josie gehört, wie Rebekah mit Grant über Josie gesprochen hatte. Sie hatte sie mit einem rettenden Engel verglichen, der gerade noch rechtzeitig in ihr Leben getreten war, bevor dieser Haushalt unrettbar im Chaos versank.
„Josie“, flüsterte Rebekah erschöpft, und irgendwie gelang es ihr, sämtliche Hoffnung und Erschöpfung in diese beiden Silben zu legen.
„Lass mich übernehmen“, sagte Josie sanft. Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern schob behutsam Rebekahs Arm zur Seite und griff mit einer erfahrenen Geste unter den Po des Babys.
„Du hast sie weinen gehört“, stellte Rebekah unnötig fest und wehrte sich nicht, als ihr die Ältere das schreiende kleine Bündel aus den Armen nahm.
„Der gesamte Staat North Carolina hat Lilly weinen gehört“, entgegnete Josie mit einem Lächeln.
Seit sie von Florida hierher nach Spring Forest gezogen war, einer kleinen Stadt in North Carolina, hatte sie alles in ihrer Macht Stehende getan, um den jungen Eltern unter die Arme zu greifen. Und nicht nur das: Obendrein vertrat sie Rebekah bei ihrem Job im Tierheim. Grant und Rebekah hatten Josie dafür das Apartment über der Garage eingerichtet, und Josie war froh, den frisch gebackenen Eltern eine Hilfe zu sein.
Josie spähte über ihre Schulter zu Lucas Bettchen. Der Junge schlief noch immer friedlich, seine Brust hob und senkte sich regelmäßig. Der Kleine hatte wirklich einen gesegneten Schlaf.
„Lucas scheint wirklich der Einzige zu sein, der sie nicht gehört hat“, sagte Josie leise lächelnd.
Rebekahs erschöpfte Gesichtszüge wandelten sich in Besorgnis. „Aber warum eigentlich nicht? Glaubst du, es stimmt etwas nicht mit seinem Gehör?“
Josie musste unwillkürlich daran denken, wie Lucas gestern Abend reagiert hatte, als sie ihm ein Schlaflied vorsang. Er hatte vor Vergnügen gequietscht, als sie trällerte und tirilierte und ihre Stimme mit Absicht höher klingen ließ. Wenn er imstande war, diese Töne zu unterscheiden, konnte er definitiv hören.
„Nein, das glaube ich nicht“, sagte sie mit Überzeugung und wiegte Lilly sanft weiter. „Ich glaube, du solltest einfach dankbar sein für diese willkommene Pause. Und jetzt geh schlafen,Mama, bevor er doch noch auf die Idee kommt, in das Geschrei mit einzufallen. Husch, husch“, fügte sie hinzu und wedelte mit der freien Hand.
Rebekahs Miene entspannte sich. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.“
„Indem du ins Bett gehst“, bestand Josie und nickte in Richtung Tür.
Rebekah war bereits zurückgewichen, aber sie schien es völlig unbewusst getan zu haben. Die arme war wirklich am Ende mit ihren Kräften, dachte Josie. Ihre Schwägerin brauchte dringend ein wenig Schlaf.
„Geh schon“, formte sie lautlos mit den Lippen. Sie ahnte, dass es mit dem halben Frieden bald vorbei sein und Lucas gleich aufwachen würde.
Josie seufzte leise, nachdem Rebekah gegangen war. „Jetzt sind wir allein“, murmelte sie dem Bündel in ihren Armen zu. Lilly schien sich langsam zu beruhigen. Sie war schrecklich süß, wenn sie sich nicht gerade die Lunge aus dem Leib schrie.
Rebekah und Grant bedankten sich jeden Tag überschwänglich bei Josie dafür, dass sie ihr Leben in Florida aufgegeben hatte, um ihnen zu helfen. Aber in Wahrheit war es Josie, die für diese Gelegenheit dankbar war. Sie kümmerte sich gerne um die Zwillinge. Und es erfüllte sie, anderen eine Stütze zu sein.
Ihr Leben lang hatte sie versucht, ihren Lieben zu helfen. Mit vollem Einsatz hatte sie ihren Ehemann unterstützt, damit er seine Ausbildung als Arzt machen konnte. Selbst nachdem ihre Tochter Hannah geboren wurde, hatte sie weitergearbeitet und alles daran gesetzt, dass er sein Ziel erreichen würde.
Vor vier Jahren dann hatte sich alles schlagartig geändert.
Ihr Mann hatte tatsächlich seinen Traum verwirklicht. Er war Arzt geworden und hatte seine eigene Praxis eröffnet. Und dann war es, a