Kapitel 1 - Sonnenuntergang
Leises Prasseln dringt in mein Unterbewusstsein und mischt sich mit dem Rauschen der vorbeifahrenden Autos, doch ich nehme all diese Geräusche nur unterschwellig wahr.
Vollkommen versunken hänge ich über einem dicken Lehrbuch aus der Universitätsbücherei und versuche, mir die letzten, noch unsicheren Formulierungen im richtigen Wortlaut einzubläuen, während ich leise vorlese und mir immer wieder Notizen auf Karteikarten mache.
»... ist, genau wie andere komplexe Belastungsstörungen eine traumatische Genese. Es treten häufig Symptome wie Amnesie und Depersonalisation auf, die -« Plötzlich landen kalte Tropfen auf meinem Arm und ich schaue auf. »Njaah! So ein Mist!« Ich habe gar nicht bemerkt, dass es zu regnen angefangen hat, doch inzwischen schüttet es wie aus Eimern und mein halber Tisch ist nass.
Hastig springe ich auf und schließe beide Fenster, ehe ich ein bereits getragenes T-Shirt von meinem Bett nehme und damit die Bücher abtupfe. Anschließend wische ich einmal über Fensterbank und Schreibtisch, um zumindest die gröbsten Pfützen aufzunehmen.
Danach werfe ich das nun klatschnasse Kleidungsstück in den Wäschekorb und bleibe noch einen Moment stehen, um meine schmerzenden Schultern zu dehnen.
Mit den Fingern fahre ich mir durch meinen aufsteigend rasierten Nacken und stelle an den fingerlangen, hellbraunen Zotteln auf meinem Oberkopf fest, dass mein letzter Friseurbesuch schon wieder viel zu lange her ist. Dabei schaue ich zum Bahnhof Schönhauser Allee hinüber, schiebe meine Brille höher, die mir ständig von der Nase rutscht, und meine Gedanken driften ab.
Die Stargarder Straße verschwimmt hinter einem grauen Wasserschleier und die Lichter der Straßenlaternen flackern im Gewitter. Einige Menschen rennen unter die überdachten Straßenbahnhaltestellen und ein paar Jugendliche richten sogar ihre Fäuste gen Himmel, als würde es irgendwas bringen, den Wolken zu drohen.
Schließlich wende ich mich ab und überlege, ob ich mir nun, da ich schon mal stehe, schnell noch ein belegtes Brot oder eine Suppenterrine mache, ehe ich weiterarbeite. Allerdings habe ich gerade wenig Ambitionen, in die Küche zu gehen, denn dazu müsste ich am offenen Wohnzimmer vorbei, in dem Daniel, mein Freund, mit seinen drei Kumpels Mike, Bastian und Pascal sitzt. Es ist Freitagabend, sie glühen vor, sind hörbar in Partylaune und wollen noch ausgehen. Ich hingegen habe gleich gesagt, dass ich mich auf die Verteidigung meiner empirischen Masterarbeit fokussieren muss und deshalb zu Hause bleibe.
Innerhalb von sieben Monaten habe ich eine Studie zu dem vorgegebenen ThemaDeliktorientierung in der Behandlung von Straftätern, welche die Analyse eines Delikts für diagnostische und prognostische Zwecke umfasst, durchgeführt. Ich musste eigene Forschungsfragen entwickeln und freiwillige Teilnehmer mithilfe einer selbst gewählten Untersuchungsmethode falsifizieren oder verifizieren. Satte achtundsiebzig Seiten sind es letztendlich geworden, und das Ganze habe ich, in mehrfacher Ausführung, als Hardcover mit dem Titel in Metallicfarben drucken lassen, um der Arbeit eine noch hochwertigere Erscheinung zu verleihen.
Kommenden Montag stehe ich nun vor dem Kolloquium meiner Universität und muss jeden einzelnen Satz meiner Arbeit fachgerecht und souverän erläutern können. Dies wird, gelinde gesagt, der wichtigste Tag meines Lebens und da muss ich mich ganz sicher nicht am Wochenende zuvor volllaufen lassen!
Noch einmal hebe ich die Arme hoch, strecke mich gähnend und bemerke dabei, dass ich mal wieder duschen müsste. Eigentlich wäre heute auch die perfekte Gelegenheit, ausgiebig zu baden, wenn nachher alle weg sind und ich das seltene Vergnügen habe, ganz allein in unserer kleinen Dreizimmerwohnung zu sein.
›Nur ein halbes Stündchen vor dem Schlafengehen. Das beruhigt sicher auch meine Nerven.‹
Seit Wochen bin ich zu nervös zum Schlafen. Woran das liegt, kann ich gar nicht genau sagen. Vermutlich an meinen Prüfungsängsten, aber mein Hirn ist auch tagsüber ruhelos und wälzt jeden Abend alle Probleme durch, die ich je hatte, gerade habe oder noch haben könnte! Es ist wirklich anstrengend.
Meine Finger gleiten über den dicken Einband des obersten Wälzers auf meinem Bücherstapel und ich kann es mir nicht verkneifen, tief zu seufzen.
Warum habe ich mich ausgerechnet auf Re