1. KAPITEL
Fletcher Harris mochte den Frühling nicht. Und besonders wenig hatte er für den Monat Mai übrig. Dafür gab es gute Gründe: Erstens stiegen zu dieser Jahreszeit die Temperaturen, und keiner der Streifenwagen von Windy Hollow verfügte über eine Klimaanlage. Eine solche Anschaffung war im diesjährigen Haushaltsplan des Städtchens nicht vorgesehen, und nach allem, was Fletcher gehört hatte, würde wohl auch im nächsten Jahr nichts daraus werden.
Zweitens plante seine Großmutter, die vor kurzer Zeit einundachtzig geworden war, am kommenden Wochenende ihren Garten zu bepflanzen. Sie würde Unmengen von Blumen anschaffen, die zwischen die anderen Pflanzen im Vorgarten gesetzt werden mussten, Saatgut besorgen, das ausgesät werden sollte, und Blumentöpfe, die ein Dutzend Mal hin und her geschoben werden mussten, bevor sie endlich zufrieden war.
In dem Gemüsegarten hinter ihrem Haus wollte sie Beete anlegen für Erbsen, Karotten, Bohnen und Kartoffeln. Ihre Pläne sahen außerdem vor, dass die Fliegengitter vor Fenstern und Türen angebracht, die Wege gereinigt und vielleicht die Fensterläden neu gestrichen werden sollten.
Und natürlich würde sie nie im Leben zugeben, dass sie selbst nicht mehr in der Lage war, alle diese Arbeiten alleine durchzuführen.
Der dritte Grund, weshalb Fletcher den Frühling nicht mochte, war der, dass die jungen Männer von Windy Hollow in dieser Zeit besonders leichtsinnig wurden. Sie fuhren zu schnell, tranken zu viel und versuchten, sich in ihrem unvernünftigen Verhalten gegenseitig zu übertreffen. Und die jungen Frauen trugen kurze Röcke und bauchnabelfreie Oberteile und ließen sich von dem Gehabe der jungen Männer beeindrucken.
Nein, der Frühling war nichts für ihn. Fletcher ließ es kalt, wenn die Eisbrocken in den Flüssen wegtauten und die Schneegrenze immer weiter nach oben wanderte. Er machte sich nichts aus Blütenkelchen und zarten Grüntönen. Wenn die Tage länger wurden und die Temperaturen stiegen, legte sich ein Schatten auf sein Gemüt. Und das bedeutete nichts Gutes für die Übeltäter von Windy Hollow.
Heute war der einundzwanzigste Mai, und es war ungewöhnlich heiß im nördlichen Teil des Bundesstaates Montana. Umso schlimmer, dass Fletcher in dem dunklen Lieferwagen seines Cousins Brian saß. Die Sitze waren aus schwarzem Kunststoff, das Lenkrad war schwarz, und überhaupt schien alles in diesem Fahrzeug dem Zweck zu dienen, sich bei Sonneneinstrahlung möglichst stark zu erhitzen und die Wärme möglichst lange zu speichern.
Fletcher hatte den Wagen am Morgen im Schatten eines großen Ahornbaumes geparkt, doch der Schatten war schon vor Stunden weitergewandert. Inzwischen waren es wahrscheinlich fast vierzig Grad im Inneren des Wagens. Wenn Fletcher ein Hund gewesen wäre, hätte ihn längst eine Gruppe von Tierschützern gerettet. Sehnsüchtig fiel sein Blick auf die Schneemassen, die immer noch die Spitze des Bitterroot-Gebirges zierten.
Er hatte sich den Lieferwagen geliehen, um eine Überwachung vorzunehmen. Die Polizeistation von Windy Hollow hatte für solche Fälle kein eigenes Zivilfahrzeug, und es wäre auch sinnlos gewesen, ein solches anzuschaffen. Denn innerhalb weniger Tage würde sich in der Ortschaft herumgesprochen haben, um welches Auto es sich handelte, und alle Bewohner würden Fletcher fröhlich zuwinken, während er sich bemühte, unbemerkt zu bleiben.
Sein Cousin lebte in Belleview, einer fünfzig Kilometer entfernten Stadt, und war sofort einverstanden gewesen, seinen alten Pick-up für ein paar Tage gegen Fletchers