: Annette Spratte
: Die Tochter der Hungergräfin
: Francke-Buch
: 9783963628245
: 1
: CHF 13.30
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Grafschaft Sayn im Westerwald, Mitte des 17. Jahrhunderts: Behütet wächst Ernestine von Sayn und Wittgenstein hinter den schützenden Mauern des elterlichen Schlosses auf, bis das Schicksal ihr Leben auf den Kopf stellt. Mit dem Tod des jüngeren Bruders endet die männliche Erbfolge und ihre verwitwete Mutter, Gräfin Louise Juliane, sieht sich einer ganzen Reihe von Feinden gegenüber: Die mächtigen Kurfürsten von Köln und Trier erheben ebenso Anspruch auf die Grafschaft wie verschiedene Mitglieder der eigenen Familie. Gefangenschaft, Hunger und Flucht bestimmen plötzlich das Leben der Gräfinnen, bis sie einen sicheren Hafen erreichen. Von dort aus startet Louise Juliane einen beispiellosen Kampf um das Erbe ihrer Töchter, der bis in die höchsten Instanzen geht. Ernestine steht jedoch vor einer ganz anderen Frage: Wen wird sie gezwungen sein zu heiraten? Dieser Roman zeichnet das wahre Leben einer außergewöhnlichen Frau nach, deren beeindruckende Haltung auch heute noch zu inspirieren vermag.

Annette Spratte lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in einem kleinen Dorf im Westerwald. Die Liebe zu Büchern begleitet sie in ihrem Leben schon länger als die Liebe zu Pferden, und Bücher waren es auch, die ihr den Weg zum Glauben gewiesen haben, als sie noch sehr weit von Gott entfernt war. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin. Wenn sie gerade nicht am Computer sitzt, kann man sie im Garten oder im Pferdestall antreffen.

Verrat

Ich saß eng an Marlene gepresst und hielt ihren Arm umklammert. Auf ihrem Schoß saß meine kleine Schwester Johannette und starrte mich aus riesigen Augen an, den Daumen im Mund. Sie hatte die ganze Zeit gewimmert, bis unsere Mutter mit Ludwig eingestiegen war, dicht gefolgt von ihrer Zofe. Mit ihren vier Jahren verstand Nanni noch viel weniger als ich, warum wir mitten in der Nacht die sichere Freusburg verlassen und nach Hachenburg fahren mussten. Unsere Kinderfrau strich ihr mit immer der gleichen Bewegung über das blonde Haar, beinahe, als würde sie es selbst gar nicht bemerken.

Es war dunkel in der Kutsche. Die Vorhänge waren zugezogen und nur ab und zu fiel ein Strahl Mondlicht ins Innere, wenn der Wagen schwankte. Mein Blick war genauso reglos auf meine Mutter und meinen toten Bruder gerichtet wie der meiner Schwester auf mich. Die Zofe sah ich nur als Schatten in der Ecke der Kutsche und Ludwig wirkte wie eine lebensgroße Puppe in den Armen meiner Mutter, die die Augen geschlossen hatte und sich nicht bewegte.

Den ganzen Tag über hatte man versucht, ihr den Knaben abzunehmen, hatte auf sie eingeredet, sie zu überzeugen versucht. Es hatte nichts genützt. Allein, um sich anzukleiden, hatte sie ihn losgelassen. Sobald die Zofe ihr das Mieder geschnürt hatte, hatte sie ihn schon wieder in die Arme geschlossen und nicht einmal ihr Vertrauter Korporal Quast, der Befehlshaber ihrer Leibgarde, hatte sie davon abbringen können. Ihr Sohn würde noch lange genug im Sarg liegen, hatte sie gesagt.

Über das Hufgetrappel und das Knarzen der Räder hinweg war nichts zu hören als das leise Schmatzen von Nanni, die an ihrem Daumen saugte.

Da! Wieder rumpelten wir über eine Bodenunebenheit und schwaches Mondlicht berührte kurz das Gesicht meiner Mutter. Auf ihrer Wange funkelte ein glitzerndes Band silbern auf, dann herrschte erneut Dunkelheit. Waren das Tränen? Weinte meine Mutter etwa?

Ich spürte, wie mein Magen sich zusammenkrampfte, und auf einmal fiel mir das Atmen schwer. Ich hatte meine Mutter noch nie weinen sehen, nicht einmal nach dem Tod meines Vaters. Damals war ich sechs gewesen, Ludwig vier und Nanni noch gar nicht geboren und wir hatten viel Zeit mit Marlene verbracht. Meine Mutter hatte ich meist nur von Weitem bewundert: die schöne, starke Gräfin Louise Juliane von Sayn und Wittgenstein, die sich gegen alle machtgierigen Verwandten gestellt hatte, um Ludwigs Erbanspruch auf die Grafschaft zu verteidigen. So viel hatte ich verstanden. All diese wichtig aussehenden Männer in ihrer prunkvollen Kleidung waren gekommen, um uns zu nehmen, was uns rechtmäßig zustand.

Aber Mutter hatte nicht klein beigegeben. Sie hatte noch nie klein beigegeben. Sie jetzt so stumm und weinend mir gegenüber sitzen zu sehen, machte mir Angst. Hatte sie etwa aufgegeben, weil Ludwig tot war? Was wurde jetzt aus uns? Warum fuhren wir nach Hachenburg? War das nicht noch von den Schweden besetzt?

»Werden wir jetzt alle sterben?«, platzte es aus mir heraus. Ich fing an zu schluchzen und drückte mein Gesicht an Marlenes Arm. Plötzlich konnte ich den Anblick meiner Mutter nicht mehr ertragen.

»So ein Unfug«, hörte ich Marlene leise sagen. »Wie kommst du nur auf so etwas?«

»Die Schweden in Hachenburg werden uns umbringen!«

»