V
Sie bildeten an jenem Sommernachmittag eine sympathische Gruppe: Madame Ratignolle nähte vor sich hin und hielt oft inne, um mit ausdrucksstarken Gesten ihrer perfekten Hände eine Geschichte oder einen Vorfall zu erzählen; Robert und Frau Pontellier saßen untätig da und tauschten gelegentlich Worte, Blicke oder Lächeln aus, die auf ein gewisses fortgeschrittenes Stadium der Vertrautheit undKameradschafthinwiesen.
Während des letzten Monats hatte er in ihrem Schatten gelebt. Niemand dachte sich etwas dabei. Viele hatten vorausgesagt, dass Robert sich Frau Pontellier widmen würde, wenn er ankam. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr, also seit elf Jahren, hatte sich Robert in jedem Sommer auf Grand Isle zum treuen Diener irgendeiner schönen Dame oder eines schönen Mädchens gemacht. Manchmal war es ein junges Mädchen, dann wieder eine Witwe, aber genauso oft war es eine interessante verheiratete Frau.
Zwei aufeinanderfolgende Jahre lang lebte er in der Sonne von Mademoiselle Duvigne. Aber sie starb zwischen den Sommern; dann gab sich Robert als Untröstlicher aus, der sich zu Füßen von Madame Ratignolle niederwarf, um jeden Bissen Mitgefühl und Trost zu erhalten, den sie ihm zukommen lassen konnte.
Frau Pontellier saß gerne da und betrachtete ihre schöne Gefährtin, als würde sie eine makellose Madonna betrachten.
„Könnte jemand die Grausamkeit hinter dieser schönen Fassade ergründen?“, murmelte Robert. „Sie wusste, dass ich sie einst anbetete, und sie ließ sich von mir anbeten. Sie sagte: ‘Robert, komm; geh; steh auf; setz dich; tu dies; tu das; sieh nach, ob das Baby schläft; meinen Fingerhut, bitte, den ich weiß Gott wo gelassen habe. Komm und lies mir Daudet vor, während ich nähe.’„
„Par exemple!Ich brauchte nie zu fragen. Du warst immer da unter meinen Füßen, wie eine lästige Katze.“
„Du meinst, wie ein anhimmelnder Hund. Und sobald Ratignolle auf der Bildfläche erschien,wares wie ein Hund. ‘Passez! Adieu! Allez vous-en!‘„
„Vielleicht hatte ich Angst, Alphonse eifersüchtig zu machen“, fügte sie mit übertriebener Naivität hinzu. Das brachte sie alle zum Lachen. Die rechte Hand eifersüchtig auf die linke! Das Herz eifersüchtig auf die Seele! Aber der kreolische Ehemann ist übrigens nie eifersüchtig; bei ihm ist die Leidenschaft ein Wundbrand, der durch Nichtgebrauch verzwergend geworden ist.
Währenddessen erzählte Robert, an Frau Pontellier gewandt, weiter von seiner einstigen, hoffnungslosen Leidenschaft für Madame Ratignolle, von schlaflosen Nächten, von verzehrenden Flammen, bis das Meer brodelte, wenn er seinen täglichen Sprung machte. Während die Dame an der Nadel einen kleinen, verächtlichen Kommentar abgab:
„Blagueur-farceur-gros bête, va!„
Diesen ernsthaft-komischen Tonfall nahm er nie an, wenn er mit Frau Pontellier allein war. Sie wusste nie genau, was sie davon halten sollte; in diesem Moment war es für sie unmöglich zu erraten, wie viel davon Scherz und wie viel Ernst war. Es war klar, dass er Madame Ratignolle schon oft Liebeserklärungen gemacht hatte, ohne dass sie sich ernst genommen fühlte. Frau Pontellier war froh, dass er ihr gegenüber nicht eine ähnliche Rolle eingenommen hatte. Das wäre unannehmbar und lästig gewesen.
Frau Pontellier hatte ihr Zeichenmaterial mitgebracht, mit dem sie manchmal auf unprofessionelle Art und Weise herumspielte. Sie mochte dieses Herumtüfteln. Sie empfand dabei eine Befriedigung, die ihr keine andere Beschäftigung bot.
Sie hatte sich schon lange gewünscht, sich an Madame Ratignolle zu versuchen. Niemals war ihr diese Dame verlockender erschienen als in diesem Augenblick, als sie wie eine sinnliche Madonna dasaß und der Schimmer des abklingenden Tages ihre prächtige Farbe bereicherte.
Robert ging hinüber und setzte sich auf die Stufe unter Frau Pontellier, um ihr bei der Arbeit zuzusehen. Sie handhabte ihre Pinsel mit einer gewissen Leichtigkeit und Freiheit, die nicht von einer langen und engen Vertrautheit mit ihnen herrührte, sondern von einer natürlichen Begabung. Robert verfolgte ihre Arbeit mit großer Aufmerksamkeit und gab kleine anerkennende Ausrufe auf Französisch von sich, die er an Madame Ratignolle richtete.
„Mais ce n’est pas mal! Elle s’y connait, elle a de la force, oui.„
Während seiner selbstvergessenen Aufmerksamkeit lehnte er einmal leise seinen Kopf an den Arm von Frau Pontellier. Ebenso sanft stieß sie ihn zurück. Noch einmal wiederholte er das Vergehen. Sie konnte nicht umhin, es für seine Gedankenlosigkeit zu halten, doch das war kein Grund, es hinzunehmen. Sie widersprach ihm nicht, sondern wies ihn erneut leise, aber bestimmt zurück. Er entschuldigte sich nicht. Das fertige Bild hatte keine Ähnlichkeit mit Madame Ratignolle. Sie war sehr enttäuscht, dass es ihr nicht ähnlich sah. Aber es war ein gutes Werk und in vielerlei Hinsicht zufriedenstellend.
Frau Pontellier war offensichtlich nicht dieser Meinung. Nachdem sie die Skizze kritisch begutachtet hatte, zeichnete sie einen breiten Farbklecks auf die Oberfläche und zerknüllte das Papier zwischen ihren Händen.
Die jungen Leute stürmten die Treppe hinauf, und der Quadroon folgte in dem respektvollen Abstand, den sie einhalten musste. Frau Pontellier ließ sie ihre Farben und Sachen ins Haus tragen. Sie versuchte, sie für ein kleines Gespräch und ein paar Nettigkeiten aufzuhalten. Aber sie meinten es sehr ernst. Sie waren nur gekommen, um den Inhalt der Bonbonschachtel zu untersuchen. Ohne zu murren nahmen sie an, was sie ihnen geben wollte, und jeder streckte zwei dicke Hände aus, in der vergeblichen Hoffnung, dass sie gefüllt würden, und dann gingen sie weg.
Die Sonne stand tief im Westen, und die Brise, die von Süden heraufkam, war sanft und träge und mit dem verführerischen Geruch des Meeres aufgeladen. Unter den Eichen versammelten sich die Kinder, die gerade erst aufgewacht waren, zu ihren Spielen. Ihre Stimmen waren hoch und durchdringend.
Madame Ratignolle faltete ihre Näharbeit zusammen und legte Fingerhut, Schere und Faden ordentlich zusammen in die Rolle, die sie feststeckte. Sie klagte über Ohnmacht. Frau Pontellier holte das Kölnisch Wasser und einen Fächer. Sie badete das Gesicht von Madame Ratignolle mit Kölnisch Wasser, während Robert den Fächer mit unnötiger Kraft einsetzte.
Der Zauber war bald vorbei, und Frau Pontellier konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob nicht ein wenig Phantasie für seinen Ursprung verantwortlich war, denn der rosige Farbton war nie aus dem Gesicht ihrer Freundin gewichen.
Sie stand da und beobachtete die schöne Frau, die die lange Reihe der Galerien mit der Anmut und Majestät hinunterschritt, die man Königinnen manchmal nachsagt. Ihre Kleinen liefen ihr entgegen. Zwei von ihnen klammerten sich an ihre weißen Röcke, das dritte nahm sie seiner Amme ab und trug es mit tausend Liebkosungen in ihren eigenen zärtlichen, umschließenden Armen. Obwohl der Arzt ihr, wie alle wussten, verboten hatte, auch nur eine Stecknadel zu heben!
„Gehst du baden?“, fragte Robert Frau Pontellier. Es war weniger eine Frage als vielmehr eine Erinnerung.
„Oh nein“, antwortete sie mit einem unentschlossenen Ton. „Ich bin müde; ich glaube nicht.“ Ihr Blick wanderte von seinem Gesicht weg zum Golf, dessen sonores Murmeln sie wie ein liebevolles, aber dringendes Flehen erreichte.
„Ach, komm!“, beharrte er. „Du darfst dein Bad nicht verpassen. Kommen Sie. Das Wasser muss köstlich sein; es wird dir nicht schaden. Komm!“
Er griff nach ihrem großen, groben Strohhut, der an einem Pflock vor der Tür hing, und setzte ihn ihr auf den Kopf. Sie stiegen die Treppe hinunter und gingen gemeinsam in Richtung Strand. Die Sonne stand tief im Westen und die Brise war sanft und warm.
VI
Edna Pontellier hätte nicht sagen können, warum sie den Wunsch, mit Robert an den Strand zu gehen, erstens ablehnte und zweitens einem der beiden widersprüchlichen Impulse folgte, die sie antrieben.
Ein gewisses Licht begann in ihr zu dämmern, das Licht, das den Weg zeigt und ihn verbietet.
In dieser frühen Phase diente es nur dazu, sie zu verwirren. Es versetzte sie in Träume, in Nachdenklichkeit, in die sch