1. Kapitel
Am 28. Februar 1815 gab die Hafenwache von Notre-Dame das Signal für das Heransegeln des Dreimasters »Pharaon«, der von Smyrna, Triest und Neapel kam. Ein Küstenlotse verlies sofort den Hafen und erreichte das Fahrzeug zwischen dem Kap Morgion und der Insel Rion. Auch hatte sich, wie immer, die Plattform der Festung Saint-Jean mit Neugierigen gefüllt; denn in Marseille ist die Landung eines Schiffes stets von großer Wichtigkeit – zumal wenn es einem Reeder der Stadt gehört.
Schwer und langsam rückte der Koloss näher und näher, so dass die Zuschauer eine unheilverkündende Ahnung packte.
Die Aufmerksamkeit Aller richtete sich auf einen jungen Mann, der – neben dem Steuermann stehend – jede Bewegung des Schiffs mit offensichtlicher Sachkenntnis verfolgte. Er war groß und schlank und hatte kohlschwarze Haare und Augen. Sein ganzes Wesen zeigte jene ruhige Sicherheit, wie sie Menschen zu eigen ist, deren Leben von Kindheit an ein Kampf war.
Einer aus der wartenden Menge konnte seine Ungeduld nicht länger beherrschen. Er sprang in eine Barke und ließ sich zur »Pharaon« hinüberrudern.
Als der junge Seefahrer das Boot herankommen sah, lehnte er sich grüßend über die Brüstung des Schiffes, den Hut in der Hand.
»Dantes!« rief der Mann in der Barke. »Was ist geschehen?«
»Ein großes Unglück, Monsieur Morrel«, entgegnete der junge Mann. »Wir haben auf der Höhe von Civita-Vechia den wackeren Kapitän Leclère verloren.«
»Und die Ladung?« fragte der Reeder lebhaft.
»Sie kommt glücklich in den Hafen, Monsieur Morrel. Ich glaube, Sie werden zufrieden sein. Aber der arme Kapitän Leclère ...«
»Was ist ihm denn passiert?« fragte der Reeder.
»Er starb an einer Gehirnentzündung unter schrecklichen Schmerzen.« Dann wandte sich Dantes an seine Leute und rief: »Holla he! Jeder zum Ankern auf seinen Posten!«
Die Schiffsmannschaft gehorchte.
»Das ist ja traurig,« erwiderte der Reeder; »aber wir alle sind sterblich, und es ist nun mal so, dass die Alten den Jungen Platz machen. In dem Augenblick, wo Sie mir versichern, dass die Schiffsladung ...«
»Sie ist in gutem Zustand, Monsieur Morrel, dafür bürge ich. Wenn Sie jetzt heraufkommen wollen, Monsieur Morrel,« sagte Dantes, der die Unruhe des Reeders bemerkte, »da ist Ihr Buchhalter, Monsieur Danglars, der wird Ihnen Auskunft geben. Was mich betrifft, ich muss das Ankern überwachen und das Schiff in Trauer versetzen.«
Das ließ sich der Reeder nicht zweimal sagen; er griff nach dem Seil, das ihm Dantes zuwarf, und kletterte mit einer Gewandtheit, die einem Seemann Ehre gemacht hätte, an den Sprossen empor, die an die Schiffswand genagelt waren.
Monsieur Danglars war ein Mann von fünf- bis sechsundzwanzig Jahren, hatte ein finsteres Aussehen und war gegenüber seinen Vorgesetzten unterwürfig, aber gegenüber seinen Untergebenen unfreundlich. Und außer, dass sein Titel »Buchhalter« an sich schon einen üblen Klang für die Matrosen hatte, betrachtete ihn die Mannschaft mit einem ebenso bösen Auge, wie sie mit Liebe auf Edmond Dantes blickte.
»Ja, ja! Der arme Leclère, er war ein braver, ehrenhafter Mann und ein ausgezeichneter Seemann, ergraut zwischen Himmel und Wasser, wie es sich für einen Mann gehört, dem die Interessen eines Hauses wie Morrel& Sohn anvertraut werden«, sagte Danglars.
»Nun,« meinte der Reeder, »es ist doch nicht nötig, ein alter Seemann zu sein, um sein Geschäft zu verstehen. Sehen Sie unsern Freund Edmond, der übt sein Amt aus – wie mir scheint – wie ein Mann, der niemanden um Rat zu fragen braucht.«
»Ja,« erwiderte Danglars, einen missgünstigen Blick des Hasses auf Dantes werfend, »ja, er ist jung und fürchtet noch nichts. Kaum war der Kapitän tot, übernahm er das Kommando, ohne jemanden zu fragen, und ließ uns eineinhalb Tage auf der Insel Elba verlier