3.Wege und Verharren in toxischen Gemeinschaften – eine Studie
Meinen Erkenntnissen liegt ein Forschungsprojekt zugrunde, für das ich Betroffene interviewt habe. Die Leitfrage lautete: »Wie geraten Menschen in Strukturen geistlichen Missbrauchs und wie kommt es, dass sie darin über einen längeren Zeitraum verharren?« Ich bin überzeugt, dass jede Person, die verstehen und ergründen möchte, was geistlicher Missbrauch ist, wie er sich im Tiefsten anfühlt und was er im Leben eines Menschen bewirken kann, den persönlichen Geschichten der Betroffenen aufmerksam zuhören muss. Aus diesem Grund habe ich mich mit Menschen unterhalten, die bereit waren, mir Einblick zu gewähren in einen Ausschnitt ihrer Lebensgeschichte und ihr ganz persönliches und leidvolles Erleben. Aus solchen Berichten können wir eine Menge lernen.
Betroffene hören
Um Personen zu finden, die bereit waren, mit mir über ihre Erfahrung des geistlichen Missbrauchs zu sprechen, machte ich durch ein Posting in den sozialen Netzwerken auf mein Projekt aufmerksam und ließ zudem eine allgemeine Mailanfrage an Betroffene schicken. Die Kontaktaufnahme erfolgte über eine gut vernetzte Mittelsperson. Dabei war mir wichtig, dass die Betroffenen über ein notwendiges Maß an Reflexionsfähigkeit bezüglich des geistlichen Missbrauchs verfügten und sich in der Lage sahen, aus einer mehr oder weniger großen Distanz (selbst-)kritisch auf ihr Leben in dem Missbrauchssystem zurückzublicken.
In den Interviews, die ich mit ihnen führte, haben sie ihren Eintritt in das missbräuchliche System und das teils sehr lange Verharren darin als einen zeitlichen Prozess und als eine persönliche Zustandsveränderung in den Blick genommen und aus ihrer subjektiven Perspektive heraus autobiografisch rekonstruiert. Als Erhebungsmethode eignete sich hierfür hervorragend das narrative Interview. Dabei erzählen die Interviewpartner in einer spontanen Stegreiferzählung ihre persönlichen Erfahrungen als Geschichte. Hintergrund dieser Methode ist die Annahme, dass durch die Dynamik des Erzählvorgangs die zurückliegenden Erlebnisse wieder lebendig werden und der Erzähler in die damalige Situation zurückversetzt wird. Dabei können mögliche Erinnerungsbarrieren abgebaut und Erinnerungslücken ausgefüllt werden. Auch gelingt es den Erzählenden häufig, die Perspektive anderer am Geschehen beteiligter Personen zu berücksichtigen und einzubinden. Im Vergleich zum Beschreiben oder Argumentieren ist das Erzählen daher die Darstellungsform, die der kognitiven Aufbereitung der Erfahrung am meisten entspricht.
Das Interview wurde so geführt, dass der Erzählfluss des Befragten von mir in Gang gebracht und aufrechterhalten wurde, ohne allerdings etwas abzufragen. Mein Part war es, aufmerksam zuzuhören, Pausen auszuhalten und nur dann einzugreifen, wenn die Erzählung versiegte. In jedem Interview galt es, aufs Neue feinfühlig einzuschätzen, wann Nachfragen zur Aufklärung von Unklarheiten sinnvoll waren und wann sie den Erzählduktus nur stören würden. Voraussetzung war in jedem Fall eine vertrauensvolle Atmosphäre zwischen der Interviewerin und dem Befragten. Denn die Missbrauchserfahrung als Thema der Narration wird vom Erzählenden häufig als sehr intim empfunden, rührt an eine innere Wunde und ist womöglich mit persönlichen Schuldgefühlen und schmerzhaften Erinnerungen verbunden.
Alle geführten Interviews wurden auf Tonband aufgenommen und anschließend vollständig transkribiert, um später als Grundlage für die Auswertung und Interpretation der Forschungsergebnisse zu dienen. Alle personenbezogenen Daten der Interviewpartner sowie die Namen der Gemeinschaften wurden selbstverständlich anonymisiert, um Rückschlüsse auf die einzelnen Personen zu vermeiden.
Erzählungen auswerten
Bei der Auswer