Einleitung: Solidarność – eine (unvollendete) europäische Revolution
Von Basil Kerski
Die Solidarność war eine gewaltfreie Revolution von europäischen Träumern. Ihre Protagonisten wollten Mauern stürzen, die sie im Sowjetimperium einsperrten. Diese Träumer waren nicht nur Gegner eines autoritären, von Moskau aus gesteuerten Regimes, sondern Europas (unterschätzte) Visionäre. Ihre Vision bestand darin, den Eisernen Vorhang einzureißen und das europäische Konzert der Großmächte zu überwinden, das Denken in Einflusssphären. Die Politik der Einflusssphären profitierte nicht nur von imperialen Traditionen, sondern auch von den über Jahrhunderte in ökonomischen und politischen Machtzentren entstandenen Stereotypen von Kulturen, Nationen, innereuropäischen Räumen. Die Träumer der Solidarność wollten den Nationen an den Peripherien der traditionellen Machträume eine gleichberechtigte Stimme geben. Und sie träumten nach den beiden Weltkriegen und totalitären Erfahrungen davon, dass nicht die Sprache des Hasses, sondern der Menschenwürde das Verhältnis zwischen den Nationen bestimmt. Die Frauen und Männer der demokratischen Opposition hinter dem Eisernen Vorhang und ihre Verbündeten in der demokratischen Welt waren keine passiven Utopisten, sondern mutige, ihre Gesundheit und ihr Leben riskierende Menschen, die die europäische Landkarte grundlegend veränderten.
Der polnische Traum von Europa
Einer der europäischen Träumer hinter dem Eisernen Vorhang war der Solidarność-Mitbegründer Bronisław Geremek. Er fasste seine Erfahrungen 1998 mit den folgenden Sätzen zusammen: »Polen, das der Gewalt von Jalta ausgesetzt war, konnte bis 1989 nicht an der Wiedergeburt der europäischen Einheit teilnehmen. Europa blieb jedoch immer das Ziel des polnischen Traums von Freiheit. Die Wiedervereinigung Europas, die wir an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert erleben, wäre ohne diesen polnischen Traum nicht möglich gewesen, denn er war der Ausgangspunkt für den Fall der Berliner Mauer, das Ende des Kalten Krieges und den Zusammenbruch des Kommunismus. Ich habe immer von Europa geträumt. Vielleicht ist auch das von Bedeutung: Große politische Projekte müssen von Träumen begleitet sein, die den Willen zum Handeln wecken.«
Ich erinnere an diese Worte Geremeks, des Historikers, Holocaustüberlebenden und polnischen Außenministers, weil vor allem im westlichen Europa das europäische Erbe der Solidarność unterschätzt wird, die geistigen und politischen Dimensionen dieser gewaltfreien Revolution heute nicht präsent sind. Solidarność wird oft auf massenhafte Arbeiterproteste, polnischen Nationalismus und eine tiefe Abneigung gegenüber Moskau reduziert. In der Solidarność konnte man zwar die traditionellen Motive des polnischen Widerstands erkennen, doch im Grunde war sie eine neue Bewegung, eine Revolution, die nicht nur von politischen Interessen sprach, sondern auch von universellen Menschenrechten, wie der französische Soziologe Alain Touraine sie treffend charakterisierte.
Touraine reiste im Sommer 1981 nach Polen, um die gesellschaftliche Massenorganisation der Solidarność wissenschaftlich zu erfassen. Den französischen Soziologen faszinierte das Bündnis von Arbeitern und Intellektuellen, die Dimension der gesellschaftlichen Selbstverwaltung in einem von Moskau kontrollierten autoritären Staat. Als sich Touraine in Polen aufhielt, zählte die Solidarność zehn Millionen registrierte Mitglieder. Es war die größte demokratische politische Organisation im Sowjetblock. Als Gewerkschaft stellte die Solidarność das Vertretungsmonopol für die Arbeiterschaft der Kommunisten infrage. Doch Touraine erkannte, dass die Solidarność viel mehr war als eine Interessenvertretung. Sie schuf Freiräume für das Entstehen einer breiten, pluralistischen Zivilgesellschaft. In diesem Raum, legitimiert und geschützt von zehn Millionen Menschen, konnten sich Politik, Kultur und Medien unabhängig von den kommunistischen Dogmen entfalten. In diesem Pluralismus blühte die Vielfalt des politischen Diskurses. Damit meine ich nicht nur die Ausprägung von diversen politischen Identitäten durch offenen politischen Streit, etwa christlich-demokratisch, liberal oder sozialdemokratisch. Ich denke hierbei auch an Leitthemen der politischen Debatten. Zwar standen in Zeiten des Realsozialismus innerpolnische Reformfragen nach der Gesundung des wirtschaftlichen und politischen Systems im Mi