: Jan Ilhan Kizilhan
: Der Kreis Die letzte Jesidin
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958905337
: 1
: CHF 18.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mitten hinein in die Wirren und politischen Umwälzungen während und nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, in das Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Kolonialmächten wird die kurdische Jesidin Aziza geboren. Es ist die Zeit, in der das osmanische Militär, später auch fanatische muslimische Sekten mit allen Mitteln versuchen, die Jesiden zum Islam zu bekehren. Jesidische Dörfer werden angegriffen, das Hab und Gut der Einwohner gestohlen, Frauen und Mädchen versklavt. Selbst vor den Gräbern der Jesiden wird nicht Halt gemacht, die Verstorbenen aus- und nach islamischer Tradition erneut begraben. Auch Azizas Familie wird gefangen genommen und zwangsislamisiert. Doch trotz allen Leids und aller Grausamkeiten, die das Mädchen erleiden muss, lässt sie sich nicht brechen und bleibt eine aufrechte Jesidin. Nachdem ihr die Flucht gelungen ist, wandert sie bis zu ihrem Tod als Heilerin von einem Dorf ins andere und hilft ihren Mitmenschen - unabhängig von ihrem Glauben und ihrer Herkunft. Als sie stirbt, ist sie bereits zu einer regionalen Legende geworden, die von Muslimen, Christen und Jesiden gleichermaßen verehrt wird. Nach der wahren Geschichte der Jesidin Begê Samur (1894-1956), deren Grab bei Urfa in der Türkei heute ein heiliger Ort ist, an den Menschen allen Glaubens gehen, um für Heilung zu beten.

Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan stammt aus dem kurdischen Teil der Türkei und gilt als international anerkannter Experte der Transkulturellen Psychiatrie und Traumatologie. Er ist Orientalist und Psychologe, leitet das Institut für Transkulturelle Gesundheitsforschung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und ist Dekan des Instituts für Psychotherapie und Psychotraumatologie an der Universität Duhok (Autonome Region Kurdistan in Irak). Er kümmert sich seit Jahren um Opfer der Terrormiliz Islamischer Staat sowie Mädchen und Frauen aus der Volksgruppe der Jesiden und bildet Fachkräfte in vielen Ländern der Welt aus. Für sein außerordentliches Engagement im Bereich Menschenrechte wurde er mit dem Women's Rights Award 2016 und dem Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. 2017 erhielt er vom American Jewish Committee (AJC) den Ramer Award for Courage in the Defense of Democracy für sein Engagement zugunsten jesidischer IS-Opfer.

Buch II


IM NAMEN GOTTES


1


Noch vor Sonnenaufgang krähte ein Hahn durchdringend. Kurz darauf dröhnte dumpf eine Glocke und weckte sie vollends. Durch das Schnitzwerk des Fensters drang die Dämmerung mit ihrem grauen Licht. Die drei Mädchen, mit denen Aziza das Zimmer teilte, hatten sich bereits von ihren Lagern erhoben, nahmen ihre Bettdecken weg und drapierten stattdessen Sitzdecken über die Matratzen. Dann legten sie die Hände vor die Brust und schlüpften murmelnd eine nach der anderen hinaus auf den breiten Gang. »Wie Bienen, wenn der Tag anbricht«, dachte Aziza, sprang auf und eilte ihnen hinterher. Nun drängten aus allen Türen Mädchen auf den Gang und liefen die Treppe zum Waschraum hinunter, der im Erdgeschoss lag. Sie wuschen sich an weißen Marmorbecken unter einem hohen Gewölbe, das mit blauen und weißen Kacheln ausgekleidet war. Nach der Reinigung des Körpers wechselten sie das Gewand. Auch Aziza verfügte jetzt über einen hölzernen Schrank. Die junge Frau, eine Araberin, die neben ihr stand und sich ihr als Aysha vorgestellt hatte, zog eine funkelnde Halskette aus ihrem Spind. Stolz legte sie das Schmuckstück um und steckte anschließend glitzernde Hänger an ihr Ohr. Am Ende holte sie einen glitzernden, goldverzierten Armreif hervor.

»Hier, nimm dies«, sagte sie und überreichte Aziza das edle Schmuckstück.

Ergriffen von der schlichten Geste, fuhr Aziza mit der Fingerspitze über das filigrane Metall. Behutsam legte sie es sich ums Handgelenk.

Aysha drehte den Armreif behutsam so herum, dass die Verzierungen gut auf der zarten Haut von Aziza zu sehen waren. Aziza registrierte erstaunt, dass sich die Hände der jungen Frau anfühlten wie Rosenblätter im Wind. Noch nie hatte sie jemand mit solch zarten Händen berührt.

»Wir sind noch nicht fertig. Auch wenn wir unter unseren Gewändern nicht zu sehen sind, so schmücken wir uns. Wer weiß, vielleicht wirst du die nächste Frau des Sheikhs oder er gibt dir einen Mann zum Gemahl, der ihm wichtig ist. Dann wird dieser von deiner Schönheit so geblendet sein und blind vor Liebe, dass er dich ein Leben lang auf Händen tragen wird. Also, beweg dich nicht«, befahl Aysha und schminkte sie mit einer wohlriechenden weißen Paste, und mit einer dunklen Masse, die nach Henna und Jasmin roch, färbte sie Azizas Augenlider dunkel und ihre Lippen rubinrot glänzend. Zum Schluss tupfte ihr Aysha vorsichtig einige Tropfen Rosenduft auf Hals und Nacken.

Am späten Vormittag stand Aziza so geschmückt an einem der Fenster im oberen Stockwerk mit den drei Frauen und blickte auf die Oliven- und Feigenbäume im großen Innenhof hinunter. Was ihre Mutter wohl gerade tat? Noch vor einer Woche hatte sie mit Silt auf de