Kapitel 1
Schmuggel
Die Nacht schien aus den Sümpfen emporzuwachsen. Oberhalb der niedrigen Wipfel der Mangrovenbäume sandte die untergehende Sonne ihr letztes Licht in die tief hängenden Wolken. Darunter verdichtete sich die Dunkelheit. Und die Stille. Es war die Stunde der Dämmerung. Jene kurze Zeit, in der alles den Atem anzuhalten schien. Denn die Nacht würde keinen Frieden bringen. Es war die Stunde des Hungers, in der lautlose Jäger in ihren Verstecken erwachten und mit kalten, grausamen Augen nach Beute spähten. Und Beute war alles, was lebte.
Dem schwarzen Wasser des Bonny-Flusses war nicht anzusehen, wo es befahrbar war oder wo es nur noch handbreit den schlammigen Grund bedeckte. Aber die Männer, die reglos in ihrem schwer beladenen Boot auf die heraufziehende Nacht warteten, kannten alle tückischen Eigenarten des Flusses. Sie wussten, dass manche der Seitenarme als schmale Kanäle durch den Sumpf führten und andere in morastigen, stinkenden Löchern endeten. Sie erkannten die seichten Stellen, an denen die Krokodile lauerten, die in ihrer Gier nicht davor zurückschreckten, ein Boot anzugreifen. Sie wussten, dass ein einziger Fehler den Tod bedeuten konnte. Denn der Tod lauerte überall im Delta.
Aufmerksam spähten sie durch die Mangroven zu der Handelsstation hinüber, deren Lichter die Anlegestelle am gegenüberliegenden Ufer beleuchteten. Die Gefahr, die von diesen Lichtern für die sechs Ruderer und ihren Anführer ausging, war weitaus größer als alles, was sie im nächtlichen Sumpf zu fürchten hatten. Es waren die Lichter des Feindes.
Die Männer hatten mit ihrem hochwandigen Boot einen weiten Weg hinter sich gebracht. Von den Ölmärkten im Norden, wo sie ihre Fässer mit Palmöl, dem flüssigen Gold des Deltas, gefüllt hatten, bis hinunter ins Reich der Mangroven. Auf ihrer Fahrt nach Süden waren sie oft in die Seitenarme des Nigers oder später des Bonny-Flusses ausgewichen. Zudem hatten sie den größten Teil der Strecke nachts zurücklegen müssen, immer darauf bedacht, nicht von den Wachen der zahlreichen Stationen der Company entdeckt zu werden. Diese hier stellte das letzte Hindernis auf dem Weg zur Küste dar. Sobald sie die Fässer mit dem Öl an den Mann mit den Pockennarben abgeliefert hätten, könnten sie in ihr Dorf zurückkehren, und statt Fässern hätten sie Gewehre im Boot, und Rum. Noch aber war es nicht so weit.
Als der letzte Schimmer der Sonne über den Sümpfen des Deltas verblasst war, gab der Anführer das Zeichen. Mit lautlosen Schlägen ihrer langen Paddel steuerten die Schmuggler das Boot aus seinem Versteck in den Fluss, bis die sanfte Strömung es erfasste. Langsam näherten sie sich den Lichtern, die in der feuchten Luft zerfasert wirkten. Sie hielten größtmöglichen Abstand zu ihnen. Unter der dichten Wolkendecke, die jegliches Sternenlicht absorbierte, war das Boot nur ein weiterer Schatten in der Dunkelheit.
Der Anführer war sich bewusst, dass sie ein hohes Risiko eingingen, wenn sie um diese Zeit die Station passierten. Besser wäre es später in der Nacht, in der Stunde vor dem Morgengrauen, wenn den Wachen vor Müdigkeit die Augen zufielen. Aber seine Männer waren erschöpft. Zu viele Stunden hatten sie schon in irgendwelchen übel riechenden Tümpeln gewartet, weil die Boote der Company auf dem Fluss unterwegs waren, eingehüllt in Tüchern, um den blutgierigen Moskitos möglichst wenig freie Haut darzubieten. Noch mehr als das Rudern zehrte das untätige Warten ihre Kraft auf. Nein, es war besser, jetzt die Durchfahrt zu wagen. Niemand würde damit rechnen. Der Anführer beabsichtigte, die Sache schnell hinter sich zu bringen. Er wies seine Ruderer an, weiter in die Mitte des Stromes zu steuern. Dort war die Strömung kräftiger und würde sie in kürzester Zeit an der Station vorbeitragen.
Die Station! Der Anführer fühlte brennenden Hass in seiner Brust aufsteigen, als sich die niedrigen Gebäude aus der Dunkelheit herausschälten. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie nicht heimlich in der Nacht über die Flüsse hatten schleichen müssen; eine Zeit, in der die Brass die alleinigen Herren des Deltas gewesen waren und die Weißen auf ihren großen Schiffen vor den Lagunen darauf gewartet hatten, dass sie ihnen die begehrte Ware brachten: Sklaven. Die Weißen waren zu schwach für dieses Land. Sie wagten es nicht, in das Delta vorzudringen. Viele starben am Fieber, während sie warteten. Manchmal war sogar keiner mehr von ihnen am Leben, wenn die Brass ihnen schließlich die Ware brachten. Ihre Schiffe verfaulten und versanken im Schlamm. Aber es kamen genug andere nach.
Keiner hatte begriffen, warum die Weißen so viele Sklaven brauchten. Für die Arbeit, sagten sie, in der Neuen Welt. Irgendwann hatte die Neue Welt jedoch genug Sklaven, und die gleichen weißen Händler fragten nach Palmöl. Wieder waren es die Brass, die ihnen das Öl brachten, denn nur sie kannten den Weg durch das Delta hinauf in den Norden, wo die Ölpalmen wuchsen. Der Handel machte sie reich, und es kamen immer mehr Weiße, die immer mehr Öl kauften