1. KAPITEL
Stimmengewirr und Musik lagen in der Luft. Miranda eilte die Treppe zur Rue Lamarck hinauf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie wieder einmal spät dran war. Yves würde sicher schon auf sie warten. Aber der Verkehr in Paris war freitagabends immer schrecklich. Touristen und Anwohner drängten sich Stoßstange an Stoßstange durch die Straßen. Miranda hatte sich vom Taxifahrer am Rand Montmartres, dem berühmten Künstlerviertel von Paris, absetzen lassen.
Es war ein lauer Frühsommerabend, und um sie herum schlenderten Liebespaare, Freundescliquen und Einsame. Ein Akkordeonspieler spielte Chansons, Straßenkünstler zeichneten Porträts und Karikaturen, und der Duft frisch gebackener Crêpes lag in der Luft. Miranda lief weiter Richtung Sacré-Coeur. Sie wich einem Jongleur aus, um den sich eine Menschentraube gebildet hatte, und umrundete eine Gruppe junger Frauen, die ihren T-Shirts zufolge Mathildes Junggesellinnenabschied feierten.
Sie unterdrückte einen Seufzer. Irgendwann würde sie die Zeit finden, sich unter die Menschen zu mischen, sie würde ein Glas Wein in einem Straßencafé trinken, sich vor Sacré-Coeur malen lassen und währenddessen die Chansons mitsummen. Aber daran war zurzeit nicht zu denken.
Bis Mittag hatte sie noch im Krankenhaus gearbeitet, war von dort aus schnell zu Hause vorbeigefahren, um sich zu vergewissern, dass bei ihrem Vater alles in Ordnung war, und war weiter nach Gatwick gehetzt, um den Flieger nach Paris zu nehmen. Nach ihrem Treffen mit Yves würde sie in ihr Hotel fahren, um morgen früh um acht Uhr wieder am Flughafen zu sein.
Auf diese Weise war ihr Vater nicht mehr als vierundzwanzig Stunden allein. Seine Depression wurde zwar besser, aber sie hatte noch immer kein gutes Gefühl dabei, ihn allein zu lassen. Auch wenn sie hinterher jedes Mal vollkommen geschafft war, war es doch wichtig, Yves einmal im Monat in Paris zu treffen, um die Fortzahlung des Unternehmerlohns ihres Vaters zu gewährleisten. Ohne das Geld würden sie sich all die teuren Psychotherapien und Medikamente nicht leisten können. Die Krankenversicherung zahlte nur das Notwendigste.
Das Bistro tauchte vor ihr auf, in dem sie seit zwei Jahren jeden ersten Freitag im Monat den Geschäftspartner ihres Vaters traf, Yves Renard. Vor dreißig Jahren hatten Yves und ihr Vater John ein Hotel an der Loire eröffnet. Und heute waren sie die Chefs eines kleinen Imperiums mit sechs Loire-Hotels in der Nähe von Nantes bis Saint-Etienne.
Miranda entspannte sich, als sie sah, dass sie dieses Mal nur eine halbe Stunde zu spät war. Yves war Schlimmeres von ihr gewöhnt. Meist saß er bei einer Flasche Rotwein an seinem Stammplatz am Fenster und betrachtete das lebhafte Treiben auf der Straße.
Sie öffnete die Tür zuPierres Bistro, und sofort schlug ihr der Duft von Wein, Gewürzen und Gebratenem entgegen. Fröhliches Stimmengewirr vermischte sich mit dem Geklapper von Besteck und Gläserklirren. Im Hintergrund lief ein Chanson von Edith Piaf.
Pierre kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. „Salut Miranda,ça va?“ Der Wirt küsste sie rechts und links auf die Wangen und betrachtete sie mit bewunderndem Blick. „Sie sehen noch schöner aus als beim letzten Mal.“
Miranda l