1. KAPITEL
Chance Carson konnte sich über sein Leben nicht beklagen.
Nun, er könnte schon. Ein Mann konnte immer etwas finden, worüber er sich beschweren konnte, aber so etwas lag Chance nicht. Seiner Meinung nach war jeder Tag ein Geschenk. Die Sonne ging auf, die Sonne ging unter, er ging zu Bett, wachte auf und machte alles noch einmal, und das war ein Triumph, egal wie man ihn maß.
Hinzu kam, dass er mit seinen Brüdern zusammenarbeiten oder nach Belieben an Rodeo-Wettbewerben teilnehmen konnte. Kurz, er hatte das Gefühl, einen Traum zu leben.
Dabei war es keine Selbstverständlichkeit, am Leben zu sein. Er wusste nur zu gut, wie schnell ein Leben viel zu früh zu Ende sein konnte. Es war eine andere Trauer als beim Tod eines älteren Menschen, und diese Ungerechtigkeit veränderte einen.
Er hatte versucht, diesen Veränderungen wenigstens etwas Gutes abzugewinnen.
„Du machst ein verdammt selbstzufriedenes Gesicht“, sagte sein Bruder Boone vom Rücken seines Pferdes aus.
Fünf der Brüder waren auf ihren Pferden draußen, auf der Suche nach Nachzüglern.
Ihre Familie besaß das meiste Land in Lone Rock, Oregon. Die Evergreen-Ranch befand sich seit Generationen im Familienbesitz, doch im Grunde hatte sie lange Zeit aus nichts anderem als nackter Erde bestanden – bis ihr Vater sein Vermögen im Rodeo und als Vorsitzender des Rodeo-Verbands gemacht hatte. Jetzt war es eine florierende Rinderfarm mit luxuriösen Häusern, die der Wildnis um sie herum einen Hauch von Zivilisation verliehen. Zu verdanken hatten sie diese Entwicklung dem Status und dem Erfolg der Familie als Rodeokönige. Sie nahmen gemeinsam an Wettkämpfen teil und arbeiteten gemeinsam. Und da die meisten von ihnen auf der Ranch wohnten, lebten sie auch praktisch zusammen.
Allerdings hätte das Rodeo die Familie auch fast einmal entzweit, denn ihre Schwester Callie war eine der ersten Frauen beim Saddle Bronc. Inzwischen bekam die Frauenmannschaft des Verbandes immer mehr Zulauf.
Chance war sehr dafür – solange es nicht seine kleine Schwester betraf.
Im Moment war keine Saison. Sie hingen alle auf der Ranch herum und verbrachten mehr Zeit miteinander als gewöhnlich. Flint, Jace, Kit, Boone und er, alle zusammen.
Wie damals als Kinder.
Fast.
Sophie war tot, und sie würde nie wieder zurückkommen. Es war ein Schmerz, mit dem er zu leben gelernt hatte. Trauer war schon seltsam. Die Leute sprachen von „darüber hinwegkommen“, aber er sah das nicht so. Man musste einfach lernen, damit zu leben. Lernen, dem Schmerz einen festen Platz zuzuweisen, damit man weiterhin atmen und mit ihm leben konnte.
Doch Chance konzentrierte sich auf das, was er hatte, nicht auf das, was er nicht hatte. Morgen musste er für ein paar Tage verreisen, um ein weiteres Stück Vieh zu kaufen.
„Ichbin zufrieden. Es ist ein weiterer schöner Tag in einer schönen Gegend.“
„Du bist ein Spinner“, sagte Flint.
„Meinetwegen, aber es bleibt dabei. Ich genieße einfach den Tag. Morgen breche ich auf und werde nicht hier sein.“
„Stimmt. Noch mehr Rinder“, sagte Jace, und versuchte vergebens, ein erfreutes Gesicht zu machen.
„Das ist nun mal unser Job“, sagte Chance.
„Klar“, sagte Boone.
„Wo bringen wir die Rinder eigentlich unter?“, fragte Boone.
„Du weißt schon, wo“, sagte Chance.
„Ich frage mich nur, wie lange es wohl dauern wird, bis mir eine der Sohappy-Schwestern ins Gesicht springt.“
„Boone“, sagte Chance. „Du weißt genau, dass Juniper und Shelby sich sofort auf uns stürzen werden.“
„Es geht um vier Fuß Grenzland“, sagte Boone. „Keine eineinhalb Meter.“
„Das macht nichts. Sie glaubt, dass unser Ur-Urgroßvater ihren Ur-Urgroßvater beim Pokern dazu gebracht hat, das Land zu verwetten, als er betrunken war. Sie macht mir jedes Mal Vorwürfe, wenn wir uns begegnen. Wir streiten uns schon seit drei Generationen, und Grandpa ist buchstäblich vor Wut darüber gestorb