: Anonym
: Altdeutsches Dekameron Erzählungen (Illustrierte Ausgabe)
: apebook Verlag
: 9783961305353
: 1
: CHF 3.10
:
: Erzählende Literatur
: German
Ein Altdeutsches Dekameron gab es im Mittelalter nicht, allerdings gingen zwischen 1200 und 1500 etwa 200 'decameronische' Geschichten als Schwank oder Märe in deutscher Sprache von Mund zu Mund, die in Sammelhandschriften zusammengefasst wurden. Diese lassen sich aber kaum vergleichen mit dem Vorbild des italienischen Decameron des Giovanni Boccaccio von 1348 bis 1353, da fast jede Novelle ihre Eigenheit durch das Erzählgut unterschiedlicher Autoren und der verändernden Wirkung mündlicher Überlieferung hat. Auch in Frankreich entstanden ähnliche Novellen oder 'fabliaux', wie die Cent nouvelles nouvelles zwischen 1456 und 1461, oder in England von Geoffrey Chaucer die Canterbury Tales zwischen 1387 und 1400. Möglicherweise sind so 'Wanderstoffe' zwischen den Volksliteraturen entstanden. Gemeinsam ist den Erzählungen im Original die Versform und der Paarreim, wobei die Länge variiert. Die Inhalte vermitteln den Eindruck eines Spiegels des Volkslebens im Gegensatz zur feudalhöfischen Literatur im 12. und 13. Jahrhundert. Die niederen Stände und erotische Themen halten Einzug in die Literatur. Stolz auf die Leistung deutschsprachiger Volkskultur, nimmt sich die Sammlung die Einteilung Boccaccios im Decamerone, dem 10-Tage-Werk, d.h. der Erzählung von zehn Geschichten an zehn Tagen, zum Vorbild. So gelingt eine Akzentuierung beliebter Themen, Motive, Stoffe, die eine Vorstellung von den Eigenarten mittelalterlicher deutscher Kleinepik vermitteln. Die sprachliche Wiedergabe dieser versgebundenen Dichtung, die im Original nur noch Spezialisten verständlich ist, erfolgt in Prosa wegen der besseren Lesbarkeit und einem Gewinn an Wirkung beim Leser. Beidem dient auch die Entscheidung, bei der Übersetzung nacherzählend zu arbeiten, dabei aber dem Original gerecht zu werden. Aufbaueigentümlichkeiten und originalgegebene Stoffanordnung bleiben unangetastet.

MIT DEN AUGEN DES VOLKES


DIE UNSICHTBAREN GEMÄLDE


Nachdem der Priester Amis unversehens zu Wohlstand gekommen war, wurde er übermütig und wälzte kühne Pläne, wie er noch größeren Reichtum häufen könne. Er ritt nach Frankreich, in die Hauptstadt Paris, und drang bis zum König des Landes vor. Unterwürfig sprach er zu ihm: »Wenn Ihr Euch meiner vielen Künste bedienen wolltet, wäre ich der glücklichste Mensch auf Erden.«

Der König fragte: »Welche Künste beherrscht Ihr denn, Meister?«

»Ich kann zum Beispiel so herrliche Gemälde schaffen, daß alle Welt des Lobes voll ist über meine Pinselführung. Dabei ist es mir möglich, einen Kunstgriff anzuwenden, den niemand außer mir kennt; ich habe ihn nämlich selbst ersonnen: So könnte ich Euch einen Palast oder einen Saal mit den Bildnissen aller zahmen und wilden Tiere ausschmücken. Wenn alles fertig ist, lasse ich Ritter und Edeldamen ein, damit sie meine Bilder betrachten können. Aber kein Mensch – er sei noch so tüchtig, klug und rechtschaffen – kann meine Gemälde sehen, wenn er nicht ehelich geboren ist. Wer unehelich geboren ist, sieht von meiner Kunst keinen Strich und keinen Schimmer. Wenn Ihr mein Können erproben wollt, zeige ich Euch mit Freuden, daß ich ein Meister meines Faches bin.«

»Aber natürlich, gern!« stimmte der König zu, und er führte den großen Künstler auf der Stelle in einen prächtigen, weiträumigen Palast, wo er ihn Umschau halten ließ. Danach fragte er ihn, welches Honorar er für das Ausmalen des Palastsaales fordern würde.

Der Priester Amis erwiderte listig: »Alle Welt ist voll von Euerm Ruhm, so daß es Euch gewiß nicht schwerfallen wird, mir für mein Werk dreihundert Goldstücke zu geben. Bei meinen hohen Aufwendungen wird ohnehin alles für das Beschaffen von Material draufgehen, so daß mir kaum etwas übrigbleibt.«

Der König versicherte eifrig: »Braucht Ihr mehr, bekommt Ihr's ohne weiteres! Lieber wollte ich selbst die höchsten Forderungen erfüllen als auf eine Probe Eurer Kunst verzichten. Ich möchte Euch nur herzlich bitten, Euer Werk möglichst bald zu vollenden! Für solche Künste ist mir nichts zu teuer!«

Der Priester sprach bedächtig: »Gut, ich male Euch diesen Saal aus, aber nur unter einer Bedingung: Solange ich arbeite, darf niemand den Saal betreten. Ich denke, daß ich dann mein Werk nach höchstens sechs Wochen vollendet habe. Befehlt also allen Euern Höflingen, daß in dieser Zeit kein Mensch die Schwelle dieses Saales überschreiten darf.«

Der König sagte sofort zu: »Ich bin mit dieser und mit allen anderen Forderungen einverstanden. Macht nur die Tür fest zu. Ich stelle Euch außerdem zwei Posten davor, die niemanden einlassen. Auch ich werde mich während der sechs Wochen nicht sehen lassen. Dann aber will ich der erste sein, der Euer Werk bewundert, und ich bringe alle meine Ritter mit. Für diesen Tag erteile ich Euch die Erlaubnis, von einem jeden Ritter, der den Saal betritt, eine Eintrittsgebühr zu erheben. Bin ich an diesem Tag noch gesund und munter, so müssen alle meine Ritter hinein! Jeder von ihnen soll offenbaren, ob er ehelich geboren ist oder nicht! Wer aber illegitimer Abkunft ist, dem entziehe ich – bei Gott! – alle seine Lehen!«

Mit diesen Worten ritt der König an der Spitze seines Gefolges davon und erzählte jedem, der's nur hören wollte, von seinem Handel. Der Priester aber ging mit seinen Helfern in den Saal und begann mit seiner Malerei. Hört zu, wie er's anfing: Alle Saalfenster wurden verdunkelt, und niemand außer seinen Helfern durfte in den Saal. Fleisch, Fisch, Met, Wein und alles, was sein Herz begehrte, wurde in Hülle und Fülle hereingeschleppt. Laßt euch sagen, was er nun begann: Er wälzte sich träge aufs Lager und tat keinen einzigen Pinselstrich! So hauste er in dem Saal, bis die festgesetzte Frist verstrichen war und der König mit vielen Rittern erschien. Kein einziger E