1973
13.1. Der Mut, den es braucht, einen ersten Satz zu setzen, auf ihn einen zweiten, dritten und schliesslich darauf eine Welt zu errichten.
21.3. Es haben alle Dinge ihren Platz zueinander. Zwischen E. und mir wird sich immer Ferne und Nähe gerade die Waage halten. Da wir nicht nach dem Gesetz der Schwerkraft zusammenfallen, ist unser Verhältnis auch nur insofern vergänglich, als wir selbst vergänglich sind. Wenn einer von uns einschläft ...
24.3. Plötzliche Anwandlung von Glück und Lebensmut spät in der Nacht eben beim Anschauen im Spiegel. Jungenhaftes Lachen übers ganze Gesicht. Schon wieder vorüber.
17.4. Einmal ging es in der Kunst um die objektive Welt, später um das subjektive Erlebnis dieser Welt durch den Künstler. Jetzt geht es um diesen Künstler selbst. Kunst wird zur sich selbst reflektierenden Lebensform. Denn der Künstler ist, wie in keiner Zeit zuvor, der Prototyp der zeitgenössischen Menschen, des Isolierten, Einsamen, auf sich selbst Zurückgeworfenen: eben des Individuums. Er war es schon immer. Heute ist es auch der „normale“ Mensch. Daher die einmalige Bedeutung des heutigen Künstlers: als Vorbild. Als willentlich und wissentlich Vollstreckender einer Lebensform, die die andern noch erleiden.
26.4. Das Schöne ist meine einzige Gottheit. Dass sie sterblich ist, stachelt mich auf zur Unsterblichkeit.
27.4. Leben ist ein einziger gesteigerter Abschied.
30.4. Sinn und Leben schliessen sich aus. Wer also leben will, muss auf den Sinn verzichten. Wer aber sinnvoll sein will, darf nicht leben.
22.5. E. sieht das Alleinsein, nicht gefühlsmässig und gedanklich, aber existenziell, noch immer – im Gegensatz zu mir – vorwiegend negativ, d.h. sie erleidet es. Muss es denn ein Verlies sein? Spürst du nicht den Wind, der in deine Kleider weht, in dein Haar greift? Den Raum um dich? Die Freiheit?
Winterthur, 2.6. Liebe E., ich spüre Trauer in Sehnsucht umschlagen, das Leben damit wieder eintreten in den Kreislauf, aus dem ich seit letztem Sommer für immer ausgetreten zu sein glaubte. Seine Versuchung wächst. Aber auch seine Gefahr, von der ich bisher geschrieben habe. Wirklich: ich sehe dem ängstlich entgegen, was seit Deinem letzten Brief nicht mehr nur in der Luft zwischen uns hängt, von dem ich nicht weiss, ob es mein Leben sein kann. Dass aber Du von ihm träumst, hätte ich nie zu träumen gewagt. – Dennoch: ich beuge schliesslich meine Stirn vor deinem rückhaltlosen Vertrauen und ergreife zögernd die ins Ungewisse entgegengehaltene Hand. Zögernd, weil ich noch immer nicht weiss, ob unsere Freundschaft von der Art ist, die gelebt werden kann, und ob sie, falls sie es nicht ist, dann je wieder das sein wird, was sie jetzt ist, wenn sie einmal missbraucht war. – Zusammenfliessen? Ich weiss nicht, ob ich das kann, ohne mich selbst zu verlieren. Und Selbstverlust? Ich weiss nicht, ob ich das will.
12.6. Die Schöpfung der Welt ist die Todsünde Gottes. Dass es Gott nicht gibt, macht die Welt nicht besser, aber es befreit sie von der Sünde, deren Name „Gut und Böse“ ist.
14.6. Grosse Verlorenheit heute nach dem mühsamen Versuch, mich bei den Behörden abzumelden. Wie werde ich mich trennen können von allem was ist und war? Was soll nun kommen? Gehört nicht jede Klinke in der eigenen Hand zu einer Türe, die, wenn man sie hinter sich schliesst, sich vor dem Leben schliesst?
Mit jedem neuen Tagebuch legt man im alten mehr gezählte Tage zu den Akten. Aber das ewige Buchzeichen tröstet, und schliesslich sind es nur die gezählten Tage, die zählen.
Winterthur, 14.6. Liebe E., mit jedem Brief, den wir uns schrei-ben, wird ein Wiedersehen schwerer, das wird mir immer klarer. Die Plätze, die wir uns zugedacht haben, werden, wie Du gesagt hast, besetzt sein von den Papieren, die wir gewechselt haben, von Worten, die über Lippen kamen, welche sich vielleicht nur gefunden hätten, wenn sie stumm geblieben wären. – Lass uns, wenn ich Dich um etwas bitten darf, dennoch nicht aufhören, uns Briefe zu schreiben. Vielleicht sind sie das einzige, was wir von uns haben werden. Und zudem: ich brauche sie. Gerade auch jetzt, in einer Phase persönlicher Schwäche. Wieder einmal bin ich soweit, an meinem Mut zur Einsamkeit zu zweifeln, umzufallen, die Fassung zu verlieren und mich ganz und gar dem Gefühl des Verlorenseins zu überlassen. Und das nur, weil ich heute meine Abmeldung von der Schweiz in die Wege geleitet habe. Was soll denn nun werden? Ich ertrage Abschiede sehr schlecht, weil sie mit jener Zeit zu tun haben, gegen die ich kämpfe: die sich erbarmungslos von Mal zu Mal hinter uns legt. Da ist