Suzanne Bosley-Thomas saß in ihrem Auto und starrte in die kahle Landschaft. Schnee bedeckte die Gipfel entlang des Wanderweges „Snowdon Horseshoe“ und bleierne Wolken versprachen weiteren Schneefall.Verdammtes Wales, dachte sie.Es ist Mitte Mai, zur Hölle, aber hier herrscht immer noch der beschissene Winter.
„Gott, ich hasse es hier“, sagte sie laut. „Ich wünschte, ich wäre gar nicht hergekommen.“
Du musst nicht reingehen, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Starte den Motor und fahr gleich wieder nach Hause. Niemand wird je erfahren, dass du hier warst. Der Gedanke war so verlockend, dass ihre Hand zum Autoschlüssel wanderte. Doch dann zog sie den Schlüssel heraus, ließ ihn in ihre Handtasche fallen und zog den Reißverschluss ihres Anoraks bis zum Kinn zu. Sie konnte nicht riskieren, draußen zu bleiben und nicht an dieser Farce teilzunehmen. Es stand zu viel auf dem Spiel.
Der Wind blies so kräftig, dass er ihr beim Aussteigen beinahe die Autotür aus der Hand riss. Er nahm ihr den Atem und ließ ihre Augen tränen, während sie über den Parkplatz zum HotelEverest Inn eilte. Als sie einen ersten Blick darauf erhaschte, zuckte sie überrascht zusammen und fragte sich kurz, ob sie halluzinierte.
DasEverest Inn ähnelte mit seinen geschnitzten Holzbalkonen und den Geranienkästen einem riesigen Schweizer Chalet. Es sah völlig anders aus als die simplen, grauen Steinhäuser der Dörfer, durch die sie durchgekommen war. Die schneebedeckten Berge im Hintergrund passten gut zur Schweizer Kulisse.
„Surreal“, murmelte sie. „Surreal“ beschrieb gut, wie sie sich gerade fühlte. An der Eingangstür aus Ätzglasscheiben zögerte sie erneut.Deine letzte Chance, wiederholte die Stimme in ihrem Kopf.Zurück zum Auto, den Pass hinunter und zur A55, dann bist du in einer Stunde wieder in England.
Sie atmete tief durch, wischte sich das Haar aus dem Gesicht und trat ein. Wärme und sanfte Musik empfingen sie. Das Foyer war ein großer, offener Bereich. Ein steinerner Kamin nahm den Großteil einer Wand ein. Ihr Blick glitt über den Empfangstresen aus Messing und poliertem Holz zur breiten, mit Teppich bedeckten Treppe. Hier hatte man keine Kosten gescheut. Als sie die Gruppe entdeckte, erstarrte sie. Drei Männer saßen an dem runden Kaffeetisch beim Feuer – das waren sie, oder? Ja, sie erkannte ihren Bruder, Henry. Er sah aus wie ihr Vater in dem Alter. Die Ähnlichkeit war so verblüffend, dass sie erschauderte und zur Eingangstür blickte. Es regnete jetzt, Schneeregen prasselte gegen das Glas.
„Kann ich Ihnen helfen, Madam?“, fragte die junge Frau an der Rezeption. Im selben Augenblick sah einer der Männer auf und sagte: „Da ist sie ja.“ Er stand auf. „Suzie!“, rief er und kam herüber, um sie zu begrüßen. „Du musst Suzie sein. Du hast dich kein bisschen verändert. Meine Güte, deine Hände sind ja eisig. Komm ans Feuer.“
„Verdammtes Wales“, sagte sie und lachte verlegen, als er ihre Hand nahm. „Es war hier nicht immer so kalt, oder?“
„Wir waren immer im August hier und ich glaube, im August schneit es selbst in Wales nicht. Komm her und wärm dich auf. Wir haben eine frische Kanne Tee. Willst du auch etwas essen?“
„Ein Tee wäre wunderbar, danke.“ Sie hockte sich auf die Kante des Ledersessels, den er für sie herangezogen hatte. „Entschuldige bitte, wenn das sehr unhöflich klingt, aber ich weiß nicht genau, wer du bist.“
Der Mann lachte. Er hatte ein attraktives Gesicht, wie man es üblicherweise in einer Parfumwerbung sehen würde, regelmäßige, weiße Zähne und eine tolle Bräune. Dunkle Locken hingen über seinen Kragen, etwas zu lang, um gesellschaftlich akzeptabel zu sein. Er trug einen Designer-Pullover, gestrickt und mit senkrechten Streifen. Suzanne hatte so einen in einer Modezeitschrift gesehen und wusste, dass sie schrecklich teuer waren.
„Ich bin dein verloren geglaubter Cousin Val, Herzchen“, sagte er. „Du würdest eine miese Ermittlerin abgeben, Mädchen. Deinen Bruder musst du erkannt haben, was nur noch zwei von uns übriglässt, und einer ist ein Priester.“
Suzanne errötete, als sie zum dritten Mann blickte und sah, dass er tatsächlich einen Priesterkragen trug.
„Es tut mir leid“, sagte sie, als er sich ebenfalls erhob. „Dann musst du mein Cousin Nick sein. Ich wusste nicht, dass du Priester geworden bist.“
„Na ja, wir hatten nicht gerade häufig Kontakt, oder?“ Nick streckte ihr seine Hand entgegen. Er hatte ein freundliches, offenes Gesicht und zeigte ihr ein schüchternes, jungenhaftes Lächeln. „Schön dich wiederzusehen, Suzanne.“
„Mummy hat mir nur erzählt, dass du vor Jahren nach Kanada gezogen bist.“
„Genau“, sagte er und jetzt fiel ihr auch der kanadische Akzent auf. „Ich ging sofort nach Toronto, als ich mit der Universität fertig war. Ein paar Jahre später zog ich nach Montreal und beschloss, mich fürs Priesteramt ausbilden zu lassen. Ich