Kapitel 1
Wie im falschen Film
»Und nun gehet hin in Frieden«, sagte Klaas Heiland in das Mikrofon auf seiner Kanzel. Dann senkte er die Stimme zu einem leisen Flüstern. »Obwohl: Da seid ihr ja ohnehin schon.«
Wie erwartet verschluckten die lauten Klänge der einsetzenden Orgel jenen letzten Satz mühelos. Heiland trat von der Kanzel zurück, faltete die Hände vor der Brust und zog aus der Kirche aus. Einmal mehr sah er auf die erstaunlich leeren Sitzreihen seiner Kirche. Normalerweise herrschte in St. Hilarius reger Betrieb, wann immer ein Gottesdienst oder eine Andacht anstanden. Doch an diesem Abend war dem nicht so. Knapp drei Dutzend Menschen hatten den Weg ins Kircheninnere gefunden, mehr nicht. Selbst vom »harten Kern«, wie Heiland die älteren Damen der Gemeinde insgeheim getauft hatte, waren nicht alle gekommen. Wo zum Beispiel war Gerda Söhnchen? Ging etwa eine Erkältung im Dorf um, von der der Pastor noch nichts mitbekommen hatte? Ein besonders fieser Darmvirus?
Zu den letzten Orgeltönen erreichte er die Sakristei. Heiland schloss die Tür hinter sich und begann, sich aus seiner »Dienstkleidung« zu schälen. Der weinrote Talar kam zurück in den Schrank, wo er bis zur Sonntagsmesse warten würde, und das dicke Buch mit den Lesungen würde er einfach zurück in die Kommodenschublade legen, bis …
Ein Klopfen an der Tür unterbrach Heilands Gedankengang. Just als er »Herein« rufen wollte, ging die Tür auch schon auf. Xaver Hufnagl trat ein.
Der Küster und Organist der Dorfkirche von Sonntal am See trug auch an diesem Abend seine geliebte Latzhose, dazu ein kariertes Hemd und einen abgewetzten Kittel. Aus der Brusttasche seiner Hose ragten einige kleine Werkzeuge – so selbstverständlich, als seien sie zur korrekten Bedienung einer Kirchenorgel absolut unverzichtbar.
»Servus, Herr Schmitzbauer«, grüßte Hufnagl. »Ich wollt’ bloß noch wegen Sonntag fragen.«
Heiland wunderte sich schon lange nicht mehr darüber, dass Hufnagl ihn mit seinem pensionierten Amtsvorgänger verwechselte. Er nickte nur. »Natürlich, mein Lieber. Kommen Sie nur. Wir müssen die Lieder für das Hochamt besprechen, richtig? Ach, und sagen Sie: Was war denn heute los? Stimmt etwas mit der Gemeinde nicht? So leer habe ich St. Hilarius noch nie erlebt.«
Hufnagl fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. Dann hob er die Schultern. »Ach, das. Das is’ sicher nur wegen dem Kastn.«
»Kasten?« Heiland runzelte die Stirn. Fragend sah er den kleineren Mann an. »Was denn für ein Kasten?«
»Net a Kasten«, schüttelte Hufnagl den Kopf. »Sondern a Kastn. Drüben in derstolzen Kaiserkrone.«
Allmählich kamen sie weiter.Zur stolzen Kaiserkrone hieß der alteingesessene Gasthof hier in Sonntal am See, wo nahezualles alteingesessen war. Betrieben wurde das Lokal, dessen Küche gut und dessen Fremdenzimmer in den Sommermonaten heißbegehrt waren, vom Wirtsehepaar Gerd und Gerda Söhnchen – zwei weiteren Sonntaler Originalen. Doch die einzigen Kasten, mit denen Heiland die Söhnchens zusammenbrachte, waren Bierkasten. Und er bezweifelte, dass seine sonst so frommen Schäfchen die Abendandacht wegen eines Gelages in der Dorfgaststätte schwänzten.
»Ich fürchte, ich kann Ihnen immer noch nicht ganz folgen, mein Lieber«, gestand er daher. »Wovon sprechen wir denn dann, wenn nicht von einem Kasten?«
»Na, von so einem Kastn. So einem Vorsprechen, wissen’s des net? Da geht’s wohl schon den ganzen Nachmittag hoch her.«
End