Die industrialisierte Welt kannte in der Geburtshilfe lange Zeit nur ein Ziel: Hauptsache, Mutter und Kind überleben. Unter welchen Umständen, schien nebensächlich. Eine Geburt sollte schließlich nicht schön sein, sondern vor allem sicher. Oder?
Seither hat sich viel getan: Die »Geburt ohne Gewalt«, die der Gynäkologe Frédérick Leboyer in den 1970er-Jahren in einem viel gelesenen, emotionalen Plädoyer forderte, hielt in mehr und mehr Kreißsäle Einzug. Partnerpersonen durften nun zur Geburt mitkommen. Schwangere bekamen zusehends individuelle Hebammenunterstützung statt Rasur, Einlauf, Lachgas und Dammschnitt. Neugeborene wurden unmittelbar nach der Geburt nicht mehr auf den Po geklapst, damit sie besser atmeten, sondern durften gleich Haut an Haut kuscheln.
Doch eins hat sich nicht verändert: Wie wir die Geburten unserer Kinder erleben, ob wir uns dabei unterstützt oder alleingelassen, gestärkt oder geschwächt fühlen, wird noch heute oft als Nebensache betrachtet. »Hauptsache, gesund«, bekommen Eltern nach schwierigen Geburten zu hören, als sei dies das Einzige, was zählt: Alle gesund, alles gut. Dabei wissen wir heute: Die Geburten der eigenen Kinder gehören für viele Menschen zu den prägendsten Erfahrungen im Leben. Der Schmerz und die Kraft, die Angst und die Zuversicht, die Unterstützung und die Einsamkeit, die wir in diesen Stunden und Minuten spüren, graben sich tief in unsere Seele ein. Selten sind wir verletzlicher als in diesem Moment. Und nie sind wir empfänglicher für Botschaften über uns selbst als an der Schwelle zum Elternsein: So stark kann ich sein, so schwach darf ich sein – diese Selbsterkenntnisse aus der Zeit der Geburt bestimmen oft unsere allerersten Gefühle in der neuen Rolle.
Von Ina May Gaskin, der US-amerikanischen Pionierin einer menschenfreundlichen Geburtshilfe, ist der berühmte Satz überliefert, dass man Qualität in der Geburtshilfe stets daran erkennen kann, ob sich Gebärende unter der Geburt wie Göttinnen fühlen. Tun sie das nicht, werden sie nicht richtig behandelt. Stellt sich die Frage: Wie fühlen sich Gebärende bei uns heute? Hier eine kleine Auswahl an Antworten aus meiner Online-Community auf Facebook und Instagram:
»Ich habe mich stark wie eine Löwin gefühlt, als könnte ich alles schaffen!«
»Ich kam mir vor wie ein dummes Schulmädchen, das ohne Hilfe der Ärzte gar nichts gebacken kriegt.«
»Ich habe mich wie eine Kriegerin gefühlt: mutig und zu allem bereit!«
»Ich fühlte mich total elend und alleingelassen, wie ein ausgesetztes Waisenkind.«
»Nach meinem Kaiserschnitt fühle ich mich wie eine Versagerin, die es nicht einmal geschafft hat, ihr Kind aus eigener Kraft zur Welt zu bringen.«
»Ich fühlte mich wie ein Marathonläufer, der kurz vorm Ziel aufgeben will – und es dann mit letzter Kraft doch noch über die Zielgerade schafft!«
Diese Aussagen zeigen: Wir alle erleben Geburten nicht nur extrem unterschiedlich – unsere Geburtserfahrung prägt häufig auch unser Selbstbild. Empfinden wir uns als Kriegerin, Löwin oder Marathonläufer, schwingt in diesen Beschreibungen Stärke und Ausdauer, Kraft und Selbstbewusstsein mit. Erleben wir die Geburt unseres Kindes hingegen ausschließlich als einen Moment der Schwäche und des Scheiterns, der Enttäuschung und des Ausgeliefertseins, wirken auch diese Erfahrungen in uns nach und machen es uns schwerer, unsere neue Rolle mit einem positiven Selbstbild zu verknüpfen.
Wünschen wir uns starke, selbstbewusste Eltern, müssen wir also bereits an einem frühen Punkt ansetzen und im Lauf der Schwangerschaft die Bedingungen für gute, stärkende Geburten schaffen.
Was für eine Geburt wünschen sich Schwangere? Aktuelle Erhebungen zeigen: Der Großteil von ihnen wünscht sich hierzulande eine Spontangeburt, also eine Geburt, bei der das Baby durch den Geburtskanal auf die Welt kommt. Gleichzeitig kommt heute etwa jedes dritte Baby in Deutschland durch die Bauchdecke zur Welt – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Für viele Schwangere sind die beiden Geburtsmodi mit sehr unterschiedlichen Emotionen und Assoziationen belegt. Die Spontangeburt hat den Ruf, natürlicher und damit irgendwie hochwertiger als ein Kaiserschnitt zu sein, aber auch sehr schmerzhaft. Der Kaiserschnitt wird oft als unnatürlicher Geburtsweg wahrgenommen, der weniger gut fürs Kind sei, dafür aber nicht so schmerzhaft für die gebärende Person. All diese Zuschreibungen sind wenig hilfreich. Geburtswege sind so individuell wie wir Menschen selbst und nicht im Ansatz holzschnittartig zu erfassen und zu beschreiben, wie dies in der Diskussion um angeblich besonders gute oder schlechte Geburten oft geschieht. Fakt ist: Es gibt sanfte, selbstbestimmte, kraftvolle und schöne vaginale Geburten – und sanfte, selbstbestimmte, kraftvolle und schöne Kaiserschnitte. Gleichzeitig gibt es stark medikalisierte, fremdbestimmte, belastende und traumatische vaginale Geburten – und ebensolche Kaiserschnitte.
Ob wir eine Geburt für uns selbst als positiv erleben, hat deshalb viel weniger mit dem Geburtsort oder -modus zu tun, als wir oft meinen. Sondern viel mehr damit, wie es uns während der Geburt geht, wie wir begleitet werden, wie wir aufgefangen werden, wenn der Geburtsverlauf eine unverhoffte Wendung nimmt. Ich möchte allen Schwangeren ans Herz legen, flexibel und innerlich offen zu bleiben. Geburten sind ein Abenteuer, auf das wir uns vorbereiten können, bei dem wir aber auch vertrauen sollten. Geburten können anders verlaufen als geplant oder erhofft und trotzdem gut und stärkend sein.
Wie muss eine Geburt nun konkret ablaufen, damit sie als gute Geburt erlebt wird? Auch hier ist das Empfinden natürlich individuell verschieden. Dennoch gibt es ein paar Wünsche, in denen sich fast alle Schwangeren wiederfinden. Um eine Geburt als gute Geburt zu erleben, brauchen die meisten Menschen folgendes:
Ein Umfeld, das sie schon während der Schwangerschaft dabei unterstützt, ihr Baby so zur Welt zu bringen, wie sie es sich wünschen.
Konkrete und wirksame Hilfe im Umgang mit möglichen Schmerzen.
Besondere Unterstützung, wenn die Geburt länger dauert oder kräftezehrender ist als erwartet.
Liebevolle Begleitung durch vertraute Menschen.
Das gute Gefühl, in sicheren Händen zu sein und professionell betreut zu werden.
Die Weltgesundheitsorganisation ergänzt diese Liste um zwei weitere Punkte: Respekt und Würde sowie Bewegungsfreiheit und die freie Wahl der Geburtsposition. All diese Kriterien solltest du im Blick haben, wenn du deinen Geburtsort und deine Geburtsbegleitung auswählst: Wo findest du all das so vor, wie du es brauchst? Eine gute Planung hilft dir dabei.
Schwangere bekommen immer wieder den Tipp, ganz unvoreingenommen in die Geburt ihres Kindes hineinzugehen und bloß keine Pläne zu machen: Nachher komme ohnehin alles anders! In diesem Rat steckt durchaus ein Funken Wahrheit: Jede Geburt ist eine Wundertüte, niemand weiß im Vorhinein genau, was passieren wird – sich da eine gewisse Beweglichkeit im Kopf und im Herzen zu...