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Mein Name ist Ruben Blum, und ich bin Historiker, jawohl,Historiker. Bald schon, nehme ich an, dürfte ichhistorisch sein. Damit meine ich, ich werde sterben und selbst Geschichte werden, eine seltene Form der Verwandlung, die traditionell den Gelehrten der exakten Wissenschaften vorbehalten ist. Wenn Juristen sterben, wird aus ihnen kein Recht, wenn Mediziner sterben, werden sie nicht zu Medizin, Professoren der Naturwissenschaft hingegen verwesen zu Biologie und Chemie, sie versteinern zu Geologie, sie zergehen in ihrer Wissenschaft, ganz so wie Mathematiker zu Statistik werden. Gleiches gilt auch für uns Historiker – nach meiner Erfahrung sind wir die einzigen Geisteswissenschaftler, für die das gilt –, die einzigen, die zu dem werden, was wir erforschen; wir altern, wir vergilben, wir werden faltig und spröde wie unsere Quellen, bis unsere Leben in der Vergangenheit versinken und selbst zum Stoff der Zeit werden. Oder vielleicht spricht da nur der Jude aus mir … Gojim glauben, das Wort werde Fleisch, Juden hingegen glauben, das Fleisch werde Wort, das ist ja auch die natürlichere, rationalere Inkarnation …
Um mich weiter vorzustellen, werde ich nun eine Bemerkung des damaligen besser-namenlos-bleibenden Präsidenten der American Historical Association zitieren, den ich noch als Student kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kennenlernte: »Ah«, sagte er mit einem schlaffen Händedruck, »Blum haben Sie gesagt? Ein jüdischer Historiker?«
Die Bemerkung des Mannes sollte mich sicherlich verletzen, doch mir machte sie nichts als Freude, und selbst heute kann ich über die Beschreibung lächeln. Ich erfreue mich an der unbeabsichtigten Ungenauigkeit und daran, dass die Doppeldeutigkeit als eine Art psychologischer Test funktionieren kann: »›Ein jüdischer Historiker‹ – was denken Sie, wenn Sie das hören? Welches Bild steht Ihnen da vor Augen?« Tatsächlich ist die Bezeichnung gleichermaßen zutreffend wie unzutreffend. Ichbin ein jüdischer Historiker, aber ich bin kein Historiker, der sich mit jüdischer Geschichte befasst – oder jedenfalls war das nie mein beruflicher Schwerpunkt.
Vielmehr bin ich nach dieser Lesart ein amerikanischer Historiker – oder ich war es. Nach einem halben Jahrhundert Forschung und Lehre wurde ich vor Kurzem von meinem Lehrstuhl als Andrew William Mellon Memorial Professor für Amerikanische Wirtschaftsgeschichte emeritiert, den ich an der Corbin University in Corbindale, New York, innehatte, im manchmal ländlichen, manchmal wilden Herzen des Chautauqua County, unweit des Ufers des Eriesees zwischen Apfelplantagen und Bienenstöcken und Molkereien – oder, wie es die abschätzigen geografischen Analphabeten aus der Großstadt New York nennen, »Upstate«. (Ich gehörte selbst einst zu diesen Stadtbewohnern, und auch wenn die alte Weisheit, dass Lehrer mehr von ihren Schülern lernen als umgekehrt, nicht zutrifft, so habe ich mir dies doch frühzeitig angeeignet: Bezeichne Corbindale niemals als »Upstate«.) Mein ursprünglicher Forschungsschwerpunkt war zwar die Wirtschaft der prä-amerikanischen, britisch-kolonialen Zeit, doch mein wissenschaftlicher Ruf, so ich denn einen habe, wurde auf dem Gebiet erworben, der heute meist »Steuergeschichte« genannt wird, und vor allem durch meine Forschungen zum Einfluss der Steuergesetzgebung auf politische Entscheidungen und Umwälzungen. Um es deutlich zu sagen: Dieses Forschungsgebiet hat mir keine Freude gemacht, aber es stand mir offen. Oder besser gesagt, das Gebiet existierte gar nicht, bevor ich es entdeckte, und wie ein stümperhafter Kolumbus entdeckte ich es nur, weil es da war. Als ich in die akademische Welt eintrat, war Amerika bereits überfüllt, selbst Amerikanische Wirtschaftsgeschichte war drangvoll, und ich konnte immer ganz gut mit Zahlen umgehen. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Steuern wies mir den Weg aus dem Ghetto der kolo