II
Die impulsive Julia
Sechs Jahre zuvor
Residenz der Severer, Rom
Ende des Jahres 191 n. Chr.
Julia wandte ihre großen, dunklen Augen von dem Pergament mit Ovids Gedichten ab und sah sich um. Ihre Schwester Maesa leistete ihr im Atrium Gesellschaft. Still saß sie da, ebenfalls in die Lektüre eines Codex vertieft. Julia stand auf und schnupperte.
»Riechst du das?«, fragte sie.
Maesa ließ das Pergament sinken und sah sie fragend an. »Was?«
Julia schien ihr gar nicht zuzuhören. Sie lief im Atrium auf und ab und sog tief die Luft ein, während sie zum Himmel aufschaute. »Die Sterne sind nicht zu sehen.«
»Es wird bewölkt sein«, suchte Maesa eine Erklärung.
Ihre Schwester schüttelte den Kopf. Ihr schönes Gesicht mit den orientalischen Zügen war angespannt. Ein Gesicht, in das sich der Legat aus Rom und spätere Statthalter auf der Stelle verliebt hatte.
»Riechst du das wirklich nicht?«, fragte Julia noch einmal. Als sie sah, dass ihre Schwester nur mit den Schultern zuckte, hob sie die Stimme und rief nach demAtriense, dem altgedienten Obersklaven der Familie. »Calidius! Calidius!«
Ein großer, muskulöser, etwa dreißigjähriger Sklave erschien im Atrium.
»Ja, Herrin?«
»Lauf und sieh dich in der Stadt um.« Julia sah prüfend in den Himmel. »Geh zum Forum des göttlichen Trajan und zum Kaiserpalast. Dann komm rasch zurück und berichte mir, ob du etwas Auffälliges bemerkt hast.«
Calidius nickte und machte widerspruchslos kehrt. Er rief einige weitere Sklaven herbei und wies sie an, Stöcke, Messer und Fackeln zu holen. Dann ging er los und tat, wie die Hausherrin ihn geheißen, ohne nach dem Grund ihres Auftrags zu fragen. Mit blindem Gehorsam hatte er es auf seinem Posten weit gebracht.
»Ist die römische Nacht so gefährlich, dass sie diese ganzen Dinge brauchen?«, fragte Maesa.
Aber Julia sorgte sich in diesem Moment nicht um die nächtliche Gewalt in der Hauptstadt des Imperiums.
»Es riecht nach Rauch, Schwester«, sagte sie. »Ich glaube, es brennt irgendwo. Aber ich weiß nicht, wie groß die Gefahr ist.«
Kaiserlicher Palast, Rom
Die Flammen breiteten sich unaufhaltsam in den Räumen des Palastes aus. Quintus Aemilius, der Kommandant der Prätorianergarde von Kaiser Commodus, gab der Wache Befehle.
»Bringt den Augustus zum Vorplatz des Circus! Schnell, schnell!«
Das Leben des Kaisers zu retten hatte oberste Priorität. Alles andere konnte warten.
In diesem Moment erdreistete sich jemand, Quintus Aemilius an der Schulter zu fassen. Er fuhr wütend herum und packte den Knauf seines Schwerts. Dann erkannte er den alten Arzt, der ihn aus schreckgeweiteten Augen ansah.
»Du musst mir Männer geben«, sagte Galen.
Quintus Aemilius spuckte aus. »Du hast vergessen, mich alsVir eminentissimus anzusprechen«, lautete seine einzige Antwort. Ihn ärgerte das Auftreten dieses Quacksalbers, in den zuerst Kaiser Mark Aurel und nun auch se