: Michel de Montaigne
: Essais Übersetzt und mit einem Vorwort von Herbert Lüthy
: Manesse
: 9783641300531
: Manesse Bibliothek
: 1
: CHF 17.80
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: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 912
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Was hat es eigentlich mit dem Menschsein auf sich? Worin besteht das spezifisch Humane in uns? - Das fragt sich Michel de Montaigne in seinen 'Essais' immer von Neuem und unterhält sein Publikum mit Selbstgesprächen, Anekdoten, geistreichen Aperçus und Zitaten. Im Weinen und Lachen, im Lieben und Hassen, im süßen Nichtstun, im Rausch und im Sterben sucht er nach Aufklärung über die zentralen Grundtatsachen des Menschenlebens. Den Krieg hält er für ein Übel, das Streben nach Erkenntnis für unverzichtbar und innere Wahrhaftigkeit für eine Pflicht. Widersprüchlich und subjektiv wie das Leben selbst, gibt er in klarer Sprache Antworten, die bis heute zum Nachdenken anregen. Montaignes gedankenreicher Skeptizismus, sein heiterer Tiefsinn und seine Gedankenschärfe haben in vier Jahrhunderten nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Diese Neuausgabe der 'Essais' enthält die deutsche Referenzübersetzung von Herbert Lüthy, kritisch durchgesehen und neu gesetzt.

Montaignes 'Essais' sind von einem zutiefst humanen Gedanken durchdrungen: 'Niemand ist davon frei, Dummheiten zu sagen. Das Unglück ist, sie gar feierlich vorzubringen.' Es ist ein erstaunliches Vermächtnis, das uns der Renaissance-Schriftsteller und -Philosoph hinterlassen hat, erstaunlich vor allem wegen seines hohen Gehalts an wahrem Leben. Nie zuvor hatte ein Autor in solch unmittelbarer Frische schreibend über sich nachgedacht, ohne Rücksicht auf konventionelle Formen und ohne Zugeständnisse an Leseerwartungen. 'Ich habe mein Buch nicht mehr gemacht, als es mich gemacht hat, ein Buch vom Fleisch und Blut seines Verfassers', heißt es an einer Stelle. Mit den 'Essais' schuf Montaigne eine neue, offene Form: den literarischen 'Versuch'. Getragen von der Freude am Zufälligen, verschränken sich hier auf originelle Weise fundierte Bildung und präzise Beobachtungen zu den Skurrilitäten des Alltags.

'Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen', urteilte Friedrich Nietzsche über das Buch.

Michel de Montaigne wurde 1533 im Périgord in eine reiche Kaufmannsfamilie geboren und genoss eine humanistische Erziehung. Nach seinem Studium der Rechte war er als Parlamentsrat und Bürgermeister in Bordeaux tätig und unternahm ausgedehnte Reisen in Frankreich, Deutschland und Italien. Dazwischen zog er sich immer wieder in die Einsamkeit zurück und widmete sich seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Sein Hauptwerk sind die 'Essais', an denen er von 1571 bis 1585 arbeitete und die eine neue literarische Form begründeten. Das zentrale Thema seiner Reflexionen und Beobachtungen ist die Analyse des Menschen als komplexes, widersprüchliches Wesen. Michel de Montaigne starb 1592.

Durch verschiedene Mittel gelangt man zum gleichen Ziel

Die gewöhnlichste Weise, das Herz derer zu erweichen, die man beleidigt hat, wenn sie uns in ihrer Gewalt und die Rache in Händen haben, ist, sie durch Unterwürfigkeit zum Mitleid und zum Erbarmen zu bewegen. Indessen haben Trotz und Unerschütterlichkeit, gänzlich entgegengesetzte Mittel, zuweilen zum selben Erfolge gedient.

Eduard, Prinz von Wales1, derselbe, der so lange über unsere Guyenne herrschte, ein Mann, dessen Laufbahn und Schicksal viele denkwürdige Züge der Größe aufweist, war von den Leuten von Limoges gar sehr beleidigt worden und ließ sich, als er ihre Stadt mit Gewalt genommen hatte, durch das Jammern des Volkes, der Frauen und Kinder nicht aufhalten, die sich, dem Gemetzel preisgegeben, um Gnade flehend ihm zu Füßen warfen, bis er, immer weiter in die Stadt eindringend, drei französische Edelleute gewahrte, die sich mit unglaublicher Kühnheit allein der Gewalt seines siegreichen Heeres entgegenstellten. Die Achtung und Bewunderung einer so rühmlichen Tapferkeit brach erst seinem Unmut die Spitze ab; und er begann von diesen dreien an mit allen übrigen Einwohnern der Stadt Erbarmen zu üben.

Skanderbeg2, Fürst von Albanien, verfolgte einen seiner Soldaten, um ihn zu töten; und dieser Soldat, nachdem er ihn mit allen Arten von Demut und flehentlichen Bitten zu besänftigen versucht hatte, entschloss sich in der äußersten Not, ihn mit gezücktem Schwert zu erwarten. Diese Standhaftigkeit hemmte jäh die Wut seines Herrn, der ihn, weil er einen so ehrenvollen Entschluss gewählt hatte, in Gnaden aufnahm. Dieses Beispiel kann von denen anders ausgelegt werden, die nicht von der staunenswerten Stärke und Tapferkeit dieses Fürsten gelesen haben.

Als Kaiser Konrad III. den Herzog Welf von Bayern belagert hielt3, wollte er sich zu keinen milderen Bedingungen herbeilassen, so niedrige und feige Genugtuung man ihm auch bot, als einzig den Edelfrauen, die mit dem Herzog eingeschlossen waren, zu erlauben, in ihrer Ehre unangetastet zu Fuß aus der Stadt zu ziehen, mit dem, was sie auf sich hinaustragen könnten. Sie aber verfielen hochgesinnten Herzens darauf, ihre Männer, ihre Kinder und den Herzog selbst auf ihre Schultern zu laden. Der Kaiser nahm so großes Wohlgefallen an der Hochherzigkeit ihres Mutes, dass er Tränen der Freude vergoss; und von Stund an erstarb die Bitterkeit tödlicher Feindschaft, die er dem Herzog geweiht hatte, und er begegnete fortan ihm und den Seinen mit Menschlichkeit.

Das eine wie das andere Verhalten würde mich leicht umstimmen. Denn ich habe eine wunderliche Neigung zur Barmherzigkeit und zur Sanftmut – so sehr, dass ich mich nach meinem Empfinden williger vom Mitgefühl überwältigen ließe als von der Hochschätzung; und doch gilt den Stoikern das Mitleiden als eine schimpfliche Leidenschaft: sie wollen, dass man den Bedrängten Hilfe bringe, nicht aber, dass man in Rührung falle und mit ihnen leide.

Doch mir scheinen diese Beispiele besonders treffend: zumal man diese Seelen, von beiden Einwirkungen angefochten und erprobt, der einen ohne Wanken widerstehen und unter der andern erliegen sieht. Es lässt sich sagen, dass es eine Wirkung der Leutseligkeit, Gutmütigkeit und Empfindsamkeit sei, sein Herz dem Mitleiden hinzugeben; daher kommt es, dass die schwächlichsten Gemüter, wie die der Frauen, der Kinder und des gemeinen Volkes, ihm am meisten unterworfen sind; hingegen bei Tränen und Bitten ungerührt zu bleiben und sich erst und einzig der Ehrfurcht vor dem erhabenen Bilde der Tapferkeit zu beugen, das sei ein Zeichen eines starken und trotzigen Sinnes, dem eine mannhafte und beharrliche Entschlossenheit Liebe und Achtung abnötigt. Gleichwohl können in weniger hochgesinnten Seelen Staunen und Bewunderung eine ähnliche Wirkung erregen. Zeuge dessen das thebanische Volk, das seine Feldherren unter Anklage auf Leib und Leben gestellt hatte, weil sie ihr Amt über die vorgeschriebene und festgesetzte Frist hinaus weitergeführt hatten, und mit knapper Not den Pelopidas freisprach, der sich unter der Last solcher Beschuldigungen krümmte und zu seiner Rettung nichts anderes als Flehen und Bitten vorbrachte: über den Epaminondas indessen, der hochfahrend über seine Großtaten berichtete und sie dem Volke auf stolze und anmaßende Weise vorhielt, hatte es nicht einmal das Herz, die Stimmkugeln zur Hand zu nehmen; und die Versammlung ging unter lauten Lobpreisungen über den hohen Mut dieses Mannes auseinander.

Als Dionysius der Ältere nach langwieriger Belagerung und unendlichen Schwierigkeiten die Stadt Rhegio genommen hatte und darin der Feldherr Phyton, ein vortrefflicher Mann, der sie so hartnäckig verteidigt hatte, in seine Hand gefallen war, wollte er an diesem ein erschütterndes Beispiel der Rache aufstellen. Zuerst sagte er ihm, wie er tags zuvor seinen Sohn und alle seine Angehörigen hatte ersäufen lassen. Worauf Phyton nichts weiter erwiderte als: sie seien um einen Tag glücklicher als