Begegnungen auf Augenhöhe
Bevor ich als Familientherapeut tätig wurde, habe ich mit verhaltensauffälligen Jugendlichen und ihren Familien gearbeitet. Und in unserer klinischen Praxis habe ich erlebt, dass alles, was ich als Vater und als Lehrer über Entwicklungspsychologie gelernt hatte, falsch war. Das war kaum zu glauben, aber in meinem Umkreis gab es damals fünfzig, sechzig Personen, die alle dieselbe Erfahrung gemacht haben.
Ich habe dann mit einem mulmigen Gefühl das BuchDein kompetentes Kind veröffentlicht. Davor hatte ich eine gute Freundin um Rat gebeten: »Ich weiß nicht, ob ich den Mut habe, das zu veröffentlichen, weil das ja nur so eine aus meiner Praxis entwickelte Theorie ist. Das ist ja keine Forschung.« Worauf sie entgegnete: »Da kannst du ganz beruhigt sein, die Forschungsergebnisse werden dir bestimmt recht geben.« Und tatsächlich wurde derUS-amerikanische Kinder- und Jugendanalytiker Daniel Stern in dieser Zeit zu einem der führenden Spezialisten der empirischen Säuglingsforschung. Mit ihm machte eine neue Generation von Psychoanalytikerinnen auf sich aufmerksam, die sich zum ersten Mal mit zwischenmenschlichen Beziehungen im Allgemeinen beschäftigten und all meine Erfahrungen bestätigen konnten – beispielsweise die Tatsache, dass Kinder kooperieren. Dann trat die Hirnforschung auf den Plan und entdeckte die Spiegelneuronen.
Was mir persönlich guttat, war der Umstand, dass ich mit vielen Eltern persönlich reden und ihnen erklären konnte, dass ihre Kinder nicht »unmöglich« waren, sondern es nur so aussah. Und dass das Verhalten des Kindes eigentlich ein Geschenk für die Eltern ist. Dieses Geschenk muss man annehmen, auspacken und verdauen – dann geht es allen besser.
Ich habe wohl auch ein gewisses – nicht therapeutisches, sondern pädagogisches – Talent gehabt, das heißt, ich habe den Eltern diese Idee gut verkaufen können. Und mit der Zeit habe ich gelernt, dass sich viele Eltern von einem althergebrachten Dilemma befreit fühlen, wenn sie das hören. Die meisten Eltern denken ja: »Ich will es unbedingt anders machen als meine eigenen Eltern.«
Die Reaktionen von Eltern und Fachleuten haben mir damals sehr den Rücken gestärkt und mich ermutigt, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Für mich hat diese Arbeit in all den Jahren nichts von ihrer Faszination verloren und ich rede sehr gern darüber, weil sie meine Leidenschaft ist – wie für andere vielleicht die Mathematik. Ein paar Jugendliche haben mir das schön beschrieben. Sie hatten einen Lehrer, der ein begeisterter Mathematiker war: »Er liebt einfach die Mathematik. Und als er gehört hat, dass elf von uns Mathe nicht ausstehen können, hatte er fast Tränen in den Augen und sagte: ›Mein Gott, das ist so ein Schatz, so eine Schönheit! Dass ihr das nicht mitbekommt!‹ Danach hat es bei uns innerhalb von drei, vier Tagen klick gemacht und plötzlich fanden wir Mathe richtig gut.«
Das entspricht meiner Erfahrung, die ich im Verhältnis von Pädagoginnen und Eltern gesammelt habe.
Man sollte auch Erwachsenen auf eine Art und Weise begegnen, wie sie ihren Kindern begegnen sollten – auf Augenhöhe statt zu schimpfen.
Ich glaube, mein Erfolg in Deutschland hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass ich nicht schimpfe, den Leuten kein schlechtes Gewissen einrede und keine Schuldgefühle bei ihnen auslöse. Das Konzept der Schuld mag in die Kirche gehören, in der Pädagogik hat es nicht die geringste B