Prolog
Der Sommer mit seinen Monsunstürmen, dem Nebel und dem endlosen Regen ist für mich die unangenehmste Zeit des Jahres, liebe Leser. Für eine Katze mit einem ausgesprochen saugfähigen Fell, die noch dazu etwas unsicher auf den Beinen ist, stellt es eine durchaus nicht ungefährliche Übung dar, sich bei einem solchen Mistwetter nach draußen zu wagen. Daher bin ich eine Gefangene in meinen eigenen vier Wänden, und mir bleibt nicht viel anderes übrig, als Tag um Tag auf dem Fensterbrett in den Gemächern Seiner Heiligkeit im ersten Stock des Namgyal-Klosters zu sitzen und auf den Innenhof hinunterzublicken. Doch selbst dieser sonst so interessante Anblick hat dann seinen Reiz verloren. Statt Mönchen in dunkelroten Gewändern und staunenden Touristen, die darauf hoffen, dass sich Seine Heiligkeit in ihrer Mitte zeigt, ist nur eintöniges Grau zu sehen. Der Innenhof ist ungefähr so spannend wie ein Unterteller mit den Resten des gestrigen Abendessens.
Deshalb hob ich eines Morgens auch neugieriger als sonst den Kopf, als ich ein vertrautes Klopfen an der Tür hörte. Es war Tenzin, der Berater des Dalai Lama in diplomatischen Angelegenheiten, wie stets im eleganten Anzug. Während er sich mit Seiner Heiligkeit unterhielt, warfen die beiden immer wieder einen Blick auf die Uhr. Mehrere Novizen schlüpften in den Raum, um routiniert die Blumentöpfe abzustauben und die Kissen aufzuschütteln – Vorbereitungen, die immer dann getroffen werden, wenn sich ein Gast angekündigt hat. Mit einem wohligen Beben des Körpers streckte ich zuerst die Vorder- und dann die Hinterbeine. Endlich Besuch, der für etwas Ablenkung sorgen würde!
Doch um wen mochte es sich handeln?
Einer der vielen Vorzüge, die Katze Seiner Heiligkeit zu sein, besteht darin, die zahlreichen Prominenten und Berühmtheiten kennenzulernen, die sich auf den Weg in den Himalaja machen, um in genau diesen Raum hier vorgelassen zu werden. Präsidenten und Popstars, Weise und Wissenschaftler, sie alle stehen irgendwann vor unserer Tür. Offiziell kommen sie aus den verschiedensten Anlässen, doch ihre wahren Beweggründe sind immer gleich, liebe Leser – und wir kennen sie genau, nicht wahr?
Zuallererst einmal wollen sie die Gegenwart des Dalai Lamaspüren. Das Segen spendende Energiefeld, das alle erfasst, die sich in seiner Nähe befinden, und die Gewissheit, die er uns so spontan und mühelos vermittelt: dass – egal, wie stürmisch unser Leben oder die Welt um uns herum auch sein mögen – unter der Oberfläche alles gut ist.
Vor ein paar Jahren kam noch ein weiterer Grund hinzu, weshalb unsere erlesenen Gäste alle Hebel in Bewegung setzen, um sich eine Audienz bei Seiner Heiligkeit zu verschaffen. Dieser Grund, liebe Leser, bin selbstverständlich ich. Es mag euch womöglich dreist erscheinen, dass ich dies so freimütig zugebe, aber falsche Bescheidenheit ist eine sehr unschöne Eigenschaft, findet ihr nicht auch? Ich jedenfalls will sie mir nicht zum Vorwurf machen lassen. Unsere Gäste wollen sich mit eigenen Augen davon überzeugen, ob das Gerücht, dass der Dalai Lama »eine Katze hat« (um diese ebenso weitverbreitete wie irreführende Formulierung zu verwenden), der Wahrheit entspricht. Ist die Katze Seiner Heiligkeit – offiziell unter dem KürzelKSH bekannt – nur eine romantische Legende oder betörende, blauäugige Realität? War dieses undeutliche graue Etwas, das während