Wald ist mehr als die Summe seiner Bäume
Wälder sind Ökosysteme. Der Begriff leitet sich ab vom altgriechischenOikos, Haushalt. Systeme sind ein organisiertes und geordnetes Ganzes. Leicht zu verstehen ist das ohne Erläuterung tatsächlich nicht. Was sollen denn Haushaltssysteme in der Natur sein?
Es ist fast paradox. Die irdische Natur umgibt uns ganz direkt, und unsere Existenz hängt komplett von ihr ab. Aber es fehlen uns immer noch die allgemein verständlichen Worte, die für alle widerspiegeln, worum es geht.
Es steckt so viel in diesem Begriff und im Konzept des Ökosystems, dass er oftmals vereinfacht wird, um ihn auch jenseits von Fachkreisen verwenden zu können.
Ein Ökosystem wird häufig darüber definiert, dass es aus lebenden Organismen, einer Lebensgemeinschaft oder Biozönose, und einem Lebensraum, dem Biotop, besteht. Diese Definition wird dem Schöpfer der Idee, Arthur Tansley, allerdings nicht gerecht, der ja just das Ökosystem erfand, um den Begriff Gemeinschaft zu vermeiden. Es ging dabei doch wesentlich um das System und das Systemische, also das Zusammenwirken, und nicht nur um das Ergebnis der Teile.
Zum einen gilt: »Wald ist mehr als die Summe seiner Bäume«, zum anderen ergibt sich nicht automatisch ein Ökosystem dadurch, dass man diverse Lebewesen zusammen an einem Ort hält. Zoologische oder Botanische Gärten sind keine Ökosysteme, sondern müssen mühsam gepflegt und gewartet werden, damit sie erhalten bleiben. Was also macht einen Wald »Öko« und was zum »System«?
Das Ökosystemverständnis ist so wichtig, dass es sich lohnt, hier etwas genauer hinzuschauen. Dabei müssen nicht nur die zentralen Bestandteile von Ökosystemen verstanden werden, sondern vor allem auch die Prozesse in ihnen, der Treibstoff, der sie am Laufen hält, ihre Wirkungen und Funktionen. Ökosysteme wie Wälder zu verstehen und zu bewirtschaften, bedeutet daher weniger, die Einzelteile möglichst genau zu kennen und einzeln zu bearbeiten, als vielmehr, in Zusammenhängen zu denken. In den folgenden Abschnitten werden wir uns deshalb mit vielerlei physikalischen, chemischen und biologischen Zusammenhängen der Wälder vertraut machen. Wer von Bäumen und Wäldern leben will, darf Moleküle genauso wenig ignorieren wie das Phänomen des Lebens an sich. Und, keine Sorge, auch der Mensch kommt noch hinzu – als Teil der Ökosysteme.
Die einzelnen Teile im Verhältnis zum Ganzen
Gedacht sei an dieser Stelle des herausragenden Forschers und Denkers Alexander von Humboldt.
Folgen wir seinem»Bestreben, die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes aufzufassen«. Auch wenn es scheinbar »nur« um den Wald geht, mögen wir uns einem kosmischen Humboldtschen Wissenschaftsverständnis verpflichtet sehen.»Es sind (...) die Einzelheiten im Naturwissen ihrem inneren Wesen nach fähig wie durch eine aneignende Kraft sich gegenseitig zu befruchten«,1 und»in der Lehre vom Kosmos wird das Einzelne nur in seinem Verhältniß zum Ganzen, als Theil der Welterscheinungen betrachtet«.2
1A. von Humboldt (1845): Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Vollständige Ausgabe in 2 Bänden. Faksimile hrsg. von H.M. Enzensberger, Eichborn, Frankfurt, 2004. S. 3.
2Ebenda. S. 25
Wälder sind Systeme
»Es ist an der Zeit, die rein reduktionistische molekulare Sichtweise durch eine neue und wirklich ganzheitliche Sichtweise der lebenden Welt zu ersetzen, bei der Evolution, Emergenz und die der Biologie innewohnende Komplexität im Vordergrund stehen.«
Carl Woese (2004)1
Wir benutzen das Wort System recht häufig in der Alltagssprache. Im Altgriechischen bedeutetsystema ein »organisiertes Ganzes, ein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes«. Es geht aus dem Wortstamm synistanai, »zusammenfügen, organisieren, in Ordnung bringen«, hervor. Die Bedeutung gemäß einer »Reihe von zusammenhängenden Prinzipien, Fakten, Ideen usw.« kam erstmals in den 1630er-Jahren auf. Die Benutzung als »tierischer Körper als organisiertes Ganzes, Summe der Lebensprozesse in einem Organismus« ist seit den 1680er-Jahren belegt.2
Seit der Antike fragten sich Menschen, warum es in der Natur eine Ordnung gibt, wie Formen entstehen und alles zusammengehört. Erst im 20. Jahrhundert entstand eine allgemeine Systemtheorie, die von Ludwig von Bertalanffy vorgeschlagen wurde.3 Sie hat viele Wissenschaften b