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Oft hörte ich meine Schwester, bevor ich sie sah, so auch an diesem Abend. Zosas samtweiche Stimme strömte durch das geöffnete Fenster der Pension Bézier und klang wie die unserer Mutter – zumindest, bis sie eine etwas schlüpfrigere Weise anstimmte, in deren Zeilen die delikateren Teile der männlichen Anatomie mit einer gewissen Frucht verglichen wurden.
Ich schlich unbemerkt ins Haus, mischte mich unter die Menge der Kostgängerinnen. Zwei der jüngeren Mädchen drehten sich im Tanz mit unsichtbaren Partnern, doch ansonsten waren aller Augen auf meine Schwester gerichtet, das talentierteste Mädchen im Raum.
Es war eine besondere Sorte junger Frauen, die die Zimmer der Pension Bézier bewohnten. Sie hatten fast ausnahmslos Stellen inne, die zu ihren losen Mundwerken passten, als Hausbedienstete, Fabrikarbeiterinnen, Fettkocherinnen, oder verrichteten beliebige andere schlecht bezahlte Arbeit an den Vieux Quais – den alten Kaianlagen von Durc. Ich arbeitete in der Gerberei Fréllac, wo Frauen den lieben langen Tag über verkrustete Alutöpfe und Färberbrunnen gebeugt standen. Aber Zosa war anders.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, rief ich, als sie ihr Lied beendet hatte.
»Jani!« Freudig kam sie auf mich zugesprungen. Ihre riesigen braunen Augen hoben sich glänzend von ihrem blassen olivfarbenen Teint ab. Ihr Gesicht war schrecklich schmal.
»Hast du schon zu Abend gegessen?« Ich hatte ihr etwas übrig gelassen, denn bei den vielen Mädchen hier im Haus neigte Essen dazu, einfach so zu verschwinden.
Sie seufzte. »Ja, hab ich. Frag mich doch nicht jeden Abend.«
»Muss ich aber. Ich bin deine große Schwester. Es ist die wichtigste Pflicht in meinem Leben.« Zosa zog die Nase kraus, und ich verpasste ihr einen Nasenstüber. Dann kramte ich in meiner Tasche, zog die Zeitung heraus, die mich einen halben Tageslohn gekostet hatte, und drückte sie ihr in die Hand. »Dein Geschenk, Madame.« Hier bei uns waren Geburtstage nicht mit Puderzucker bestäubt; sie waren hart erarbeitet und kostbarer als Gold.
»Eine Zeitung?«
»Die Stellenanzeigen.« Mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen griff ich nach der Zeitung und schlug sie auf.
Darin fanden sich Anzeigen für Stellen in schicken Boutiquen, Patisserien und Parfümerien – Stellen, die man niemals einer Dreizehnjährigen geben würde, die keinen Tag älter als zehn aussah. Zum Glück waren es nicht diese Annoncen, denen mein Interesse galt.
Ich bewegte den Zeigefinger über die Seite und deutete auf eine Anzeige, die vor etwa einer Stunde in sämtlichen Tageszeitungen der Stadt aufgetaucht war.
Die Tinte schimmerte leuchtend violett, wie der Blutmohn in Aligney oder amethystfarbener Pannesamt. Sie stach aus dem Rest hervor, ein eigenartiges Leuchtsignal in einem Meer von Schwarz und Weiß.
Die Mädchen scharten sich um uns und reckten die Köpfe, um etwas zu sehen. Die violette Tinte schillerte so bunt, dass sie mit poliertem Mondstein hätte konkurrieren können.
Eine Adresse war nicht angegeben. Das war bei dem legendären Hotel nicht nötig. Ungefähr alle zehn Jahre tauchte es in derselben Gasse in der Innenstadt auf. Vermutlich waren bereits sämtliche Bewohner der Stadt dort versammelt,