Guten Morgen, Sonne
1932
1.
Es ist der 1. September 1932.
In genau sieben Jahren wird der Zweite Weltkrieg beginnen.
Dieser Morgen ist im Vergleich dazu nicht gerade denkwürdig. Für Mildred fängt er wohl an wie jeder andere. Sie erwacht in ihrem einfachen Holzbett, steht auf und zieht die Vorhänge zurück, um das Tageslicht hereinzulassen. Weil die Wohnung große, breite Fester hat, gibt es davon mehr als genug, selbst im tiefsten Winter, wenn die Luft in Berlin körnig wirkt und die Konsistenz und Farbe von Kreide annimmt. Ein schmaler Flur führt ins Wohnzimmer, wo Mildred von Fenster zu Fenster geht und die Vorhänge öffnet. An den Wänden stehen Regale voll heißgeliebter Bücher. Ölgemälde von dichten Wäldern bringen Gold und Smaragdgrün in einen ansonsten schlicht eingerichteten Raum. Hier steht ein Sofa mit hölzernen Armlehnen. Dort liegen zwei ausgefranste Teppiche. Ein massiver runder Tisch, zwei robuste Stühle. Die Holzdielen sind abgenutzt, an manchen Stellen löchrig und knarren unter Mildreds Sohlen, wenn sie ans andere Ende des Zimmers geht, wo ein weißer Kachelherd steht, dessen dickes Ofenrohr bis unter die Decke reicht. Manchmal gibt es Kohle, manchmal nicht. Heute gibt es vielleicht welche. Mildred schürt die Kohlebrocken mit einer Eisenstange, damit frische Funken fliegen. Das Wasser im Kessel, den sie auf den Herd stellt, reicht für zwei Tassen Kaffee, eine für sie und eine für Arvid.
Sie macht das aus Gewohnheit. Sie ist allein, jedoch nicht mehr lange. Schon bald wird Arvid von seiner Russlandreise zurückkehren, rechtzeitig zu ihrem Geburtstag. In gut zwei Wochen wird sie dreißig Jahre alt