: Juliane Stückrad
: Die Unmutigen, die Mutigen Feldforschung in der Mitte Deutschlands
: Kanon Verlag
: 9783985680467
: 1
: CHF 17.90
:
: Gesellschaft
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Danke, dass Sie sich für unser Dorf interessieren!»Ethnografie will mutig und lustvoll die vielen Wirklichkeiten unserer Welt erkunden. Ethnografie ist Poesie.«Seit 20 Jahren erforscht die Ethnologin Juliane Stückrad Gemeinschaften in der Provinz. Sie begleitet Menschen, die oft von Wut und Unmut beherrscht werden. Und die dennoch nie den Mut verlieren. Darüber hat sie ein bahnbrechendes Buch geschrieben.Auf einer Reise durch Peru wird der jungen Ethnologin Juliane Stückrad plötzlich klar, dass sie nicht die Rituale indigener Gesellschaften erforschen will. Ihr wahres Interesse gilt ihrer ostdeutschen Heimat, dem Leben am Rand und nicht zuletzt der eigenen Herkunft. Als teilnehmende Beobachterin erforscht sie von nun an die Lebens- und Arbeitswelt und den Wandel in vielen strapazierten Regionen. Sie geht auf Demonstrationen, sitzt mit den Dorfbewohnern am Tresen, besucht Familienfeiern und Gemeindefeste. Sie studiert Grabsteine, Autoaufkleber und Plakate. Ihr Buch präsentiert ungehörte und überhörte Geschichten, die gleichermaßen vom Mut wie vom Unmut künden. Geschichten, die Zugang zur Vielfalt ostdeutscher Lebenswelten bieten und Heimat als Veränderung, Erinnerung und Selbstbehauptung beschreiben.

Juliane Stückrad studierte in Leipzig Ethnologie und Kunstgeschichte. 2010 promovierte sie mit einer Arbeit über die Kultur des Unmuts an der Friedrich-Schiller-Universitä Jena. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Volkskundlichen Beratungs- und Dokumentationsstelle für Thüringen und sitzt seit 2019 für die SPD im Stadtrat von Eisenach. Im März 2021 erhielt sie den Ehrenbrief des Landes Thüringen für ihre Forschung zu Ostdeutschland und ihr Engagement zum Erhalt des Landestheaters Eisenach. Mit ihrer Familie lebt sie in Eisenach.

Prolog:
Ankommen


Ich durchwühle die vollgestopften Schränke in meinem Arbeitszimmer. Vor der Tür zum Balkon stapeln sich Ordner mit Steuer- und Versicherungsunterlagen, Mappen mit Urkunden und Zeugnissen, Manuskripte, Tagungsmitschriften, Materialsammlungen zu vergangenen Aufträgen, alte Ausgaben wissenschaftlicher Zeitschriften, Körbe mit Briefen und Kartons mit Erinnerungen an die Babyjahre meiner beiden Kinder. Genervt blicke ich erst auf das Chaos zu meinen Füßen, dann schaue ich zur Beruhigung durch die bodentiefe Scheibe der Balkontür nach draußen. Wie ich die Aussicht aus meinem Elternhaus liebe! Unterhalb des Gartens verläuft ein Tal mit Villenbebauung vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Gegenüber geht ein kiefernbewachsener Hang nach Südosten in dichten Wald über. Schaue ich nach Norden, breitet sich vor mir in einer weiten Senke meine Heimatstadt Eisenach aus.

Ich gebe mir einen Ruck und wende mich wieder meinem unordentlichen Schrank zu, denn ich bin auf der Suche nach dem Tagebuch, das ich im Winter 2001/02 während einer Reise durch Peru und Bolivien geschrieben habe. Ich finde viele Notizbücher voll mit Erinnerungen an andere Reisen, nur nicht dieses. Dann soll es so sein. Ich muss bei meinem Versuch, mich daran zu erinnern, wie mein Weg zur ethnografischen Erkundung Ostdeutschlands seinen Anfang nahm, offenbar darauf verzichten. Wenigstens finde ich das Fotoalbum wieder. Die Bilder sind ordentlich eingeklebt, nur die Bildunterschriften habe ich nicht mehr hinzugefügt. Ich betrachte die vielen Sehenswürdigkeiten und Landschaften, zu denen ich damals mit meiner Studienfreundin Katharina reiste.

Als wir die gemeinsame Reise planten, lag unser Studium der Fächer Ethnologie und Kunstgeschichte an der Universität Leipzig schon hinter uns. Aber eine richtige Vorstellung, was wir mit dem Studienabschluss anfangen sollten, hatten wir beide nicht. Katharina war in ihren alten Beruf in einem Verlag zurückgekehrt, und ich hatte ein knappes Jahr auf archäologischen Ausgrabungen im Süden Brandenburgs Geld verdient, um mir diese Reise leisten zu können. Dahinter stand die aus heutiger Sicht höchst n