Mitte 2018 bekam ich die Transkripte von ungefähr 850 Briefen Lyonel Feiningers an seine zweite Frau Julia in die Hände. Der damalige Leiter der Quedlinburger Lyonel-Feininger-Galerie, Michael Freitag, beauftragte mich, eine Lesung zu konzipieren, die 2019 im Rahmen des Veranstaltungsprogramms zur Ausstellung »Die Feiningers – ein Familienbild am Bauhaus« stattfinden sollte. Zusammen mit dem Künstler Frank Diersch entwickelte ich ein Live-Hörspiel zum Thema. Michael Freitags enormes Wissen und Rückfragen bei Dr. Roland März, ebenfalls ein Feininger-Experte, halfen uns dabei.
Die Briefe ließen mich allerdings nicht los. Briefe, die 1905 beginnen und 1935 enden. Dreißig Jahre Leben, dreißig Jahre Zeitgeschichte aus der Perspektive Lyonel Feiningers, das meiste davon unveröffentlicht oder lediglich verstreut auffindbar in Ausstellungskatalogen und wissenschaftlichen Fachpublikationen, oft auf einzelne Zitate reduziert, in denen Feininger sich zu seinem Kunstverständnis äußert, zu wichtigen Figuren des Kunstmarkts seiner Zeit oder zu Verhandlungen bei Verkäufen.
Die Ausgabe, die Sie nun in Händen halten, bietet erstmals eine gebündelte und umfangreiche Auswahl der Briefe, die viele Aspekte, welche in den dreißig Jahren Thema der sehr persönlichen Korrespondenz waren, auffächert. Sie bietet also ein komplexes Bild, vor allem mit Blick auf die gemeinsame Geschichte der beiden Schreibenden. Es sind Briefe, die eine außergewöhnliche Liebesgeschichte erzählen und uns durch die Zeiten führen. Die Zeiten vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, die Zeiten während der Weimarer Republik, der Deutschen Inflation, der Entstehung, Blüte und Schließung des Bauhauses, die Zeiten der Weltwirtschaftskrise, des aufkommenden Nationalsozialismus bis hin zur Machtergreifung Hitlers, die dazu führt, dass Lyonel und Julia Deutschland Richtung Amerika verlassen müssen. Julias jüdische Abstammung und Lyonels als »entartet« stigmatisierte Kunst brachten die Familie, trotz amerikanischer Staatsbürgerschaft, zunehmend in Gefahr. In New