: Rose Marie Gasser Rist
: MEILIN Band III der Bernsteinsaga
: Sheema Medien Verlag
: 9783948177928
: 1
: CHF 17.70
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: Erzählende Literatur
: German
: 666
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Auch mit dem 3. Band der Bernsteinsaga ist Rose Marie Gasser Rist ein Wurf gelungen. Ihr neuer Roman ist wort- und bildgewaltig, dabei gänzlich ohne Pathos und Kitsch. Die Autorin erzählt die Lebensgeschichte einer besonderen Frau der Boomer-Generation. Meilin ist ein eigenwilliger Charakter und bleibt dabei sympathisch - egal, welche Fehlentscheidungen sie auch trifft. Meilins unschuldiger Forschergeist führt sie rund um den Globus, zu den Tiefen ihrer Sexualität und in mystische Parallelwelten. Zum Inhalt: Meilin kommt 1961 in Brisbane zur Welt und entflieht im Alter von 19 Jahren dem engen Elternhaus. Sie reist mit dem französischen Backpacker Gérard nach Europa. Ihre Odyssee führt nach Marokko über Ägypten zurück nach Frankreich, wo sie in einer Kommune für kurze Zeit Heimat findet und ungewollt schwanger wird. Der Tochter Amber zuliebe folgt sie dem Kindsvater Walter nach Zürich und merkt, dass das 'Mutterding' so gar nicht ihres ist. Zerrissen zwischen dem Bedürfnis nach Freiheit und der Liebe zur Tochter, zwischen Kontinenten, zwischen Diesseits und Jenseits mäandert sie viele Jahre durch ihr Leben. Der Wendepunkt ist eine Reise ins australische Outback, wo sie dem fremdesten Menschen ihres Lebens begegnet: sich selbst. Ein Roman für Erwachsene. 'Meilin führt uns einfühlsam und ungeschminkt in die gehüteten Bereiche des weiblichen Werdens. Brillant erzählt beleuchtet dieser Band der Bernstein Saga jenseits von Konventionen Frauen und Männern den Weg in ein neues Miteinander.' (Annette Blandinières, Künstlerin und Verlegerin Annem éditions) Band I der Bernsteinsaga: TRUDE Band II der Bernsteinsaga: AMBER Band III der Bernsteinsaga: MEILIN 3 Frauen - 3 Generationen - und ein Stein, der alle verbindet!

1969
Sei still, dein Bruder denkt


Brisbane


Es musste an einem Sonntag gewesen sein, weil sie am Morgen in der Kirche waren. Meilin balancierte barfuß auf einer Ritze zwischen zwei Parkettplanken und spreizte die Arme wie eine Hochseilakrobatin. Regen klatschte an die Fensterscheiben. Den dunklen Faltenrock hatte sie vor dem Mittagessen gegen ihr orangefarbenes Plüschkleid ausgetauscht, das nirgends zwickte und sie nicht in ihrer Bewegungsfreiheit einengte. Meilin summte vor sich hin.

„Sei still, dein Bruder denkt!“

Das Mädchen fuhr erschrocken zusammen und wäre beinahe umgefallen, als Vaters scharfe Stimme den Satz wiederholte. Meilin hielt inne und drehte den Kopf zum Bruder. Peter trug noch die feinen Kleider. Manierlich saß er in seinen dunkelblauen Shorts, die von Hosenträgern, die sich über das gebügelte weiße Hemd spannten, gehalten wurden, auf dem Sofa. Er stützte ein Kinderbuch aus festem Karton auf seinen Oberschenkeln ab, die Unterschenkel baumelten in marineblauen Kniestrümpfen über die Sofakante. Peters Augen blickten ins Leere.

„Geh auf dein Zimmer, dein Hampeln nervt!“ Vater hatte nicht einmal von der Zeitung aufgesehen. Meilin suchte den Blick ihrer Mutter, die am Esstisch in einer Illustrierten Kreuzworträtsel löste. Ein Zwinkern, sie zum Bleiben zu bewegen oder ein einlenkendes Wort folgten nicht. Mutter Annie stierte unverwandt auf ihr Heft. Geknickt schlich sich Meilin aus dem Wohnzimmer, tappte langsam die Treppe hinauf in ihr Zimmer und setzte sich auf die Bettkante.

Sie seufzte und ließ ihren Blick über die blassgelbe Tapete, über das Regal mit den Büchern und den Puppen und über den Schrank, in dem ihre Flanellpyjamas nach Farben sortiert lagen, schweifen. Sie konnte sich gut alleine beschäftigen. Mit Peter war nie etwas anzufangen, und mit anderen Kindern durfte sie selten spielen. Es wurde ihr nicht langweilig, ihre Puppe umzubetten, sie zu wiegen, zu liebkosen und mit Kleidchen oder bunten Stoffresten, die sie hortete, einzukleiden. Spannende Muster fanden sich überall. Wenn sie die Augen zusammenkniff, sah Meilin Gesichter auf Tapeten und Fliesen. Von Farben konnte sie nie satt werden.

Meilin wünschte sich nichts mehr als einen Wasserfarbkasten, wie sie ihn in der Schule benutzten. Wasserfarben flossen weich über das Papier und vermischten sich zu überraschenden Figuren. Ihre Eltern erfüllten ihr den Wunsch nicht. Wasser und Farben könnten auf Teppich und Möbeln Spuren hinterlassen. So begnügte sich Meilin mit ihren Stiften. Es kam fast an die Schulfarbe heran, wenn sie das Blatt mit Spucke benetzte und mit den bunten Minen über die feuchte Spur fuhr. Die Farben verflossen nicht so sehr wie mit Wasser, aber sie glänzten schön, bis das Blatt getrocknet war.

Heute lockten Meilin die Farbstifte nicht. Sie fühlte sich nicht bunt und auch nicht heiter. Schwarz war es in ihr. Ein finsteres Etwas, das ihr Angst einflößte. Kurz überlegte sie sich, es zu malen, aber sie wollte um keinen Preis einen Schritt darauf zu machen, um nicht verschluckt zu werden. So beobachtete Meilin das Loch in ihrem Bauch wie einen Fremdkörper. Sie fragte sich, wie es wäre, wenn das Loch von innen ihre bunten Farben, ihre Worte, die Freude am Malen und die Lieder einfach verschlucken würde. Wo sie dann wäre. Von ihr bliebe nur noch eine Hülle zurück, die ihre Eltern vom Bett klauben, in einen Sarg stecken und zum Friedhof tragen würden, weil es ihre Pflicht als Eltern war. Meilin war überzeugt, dass weder Mama oder Papa noch Peter eine Träne vergießen würden. Peter würde sich freuen, das größere Zimmer zu bekommen. Nur ihre Großmutter, Granny Trudy, würde traurig sein und vielleicht eine Blume zu der Holzkiste in der Grube werfen. Niemand sonst würde kommen. Diese Vorstellung war trostloser als das Schwarz selbst. Deshalb vermied sie es um jeden Preis, dem Loch weiter Aufmerksamkeit zu schenken.

Meilin zwang sich, an etwas anderes zu denken. Sie reckte sich nach rechts zum Nachttisch und bekam den Rahmen mit dem Foto zu fassen. Meilin betrachtete das Bild, lächelte zögerlich und drückte Trudy an die Brust.

Dann horchte sie auf. Sie