Schwungvoll drehte Wilmine den Gashebel der alten Maschine. Knatternd erwachte das Motorrad zum Leben. Der Scheinwerfer sprang an und erleuchtete das Innere vom Holzschuppentor. Ein braun geschecktes Huhn versperrte mit ausgebreiteten Flügeln störrisch den Weg.
Wilmine fixierte es durch ihre Fliegerbrille mit den glupschigen Gläsern. „Genie, Bahn frei, du kannst mich nicht aufhalten. Aber wenn du möchtest, nehme ich dich mit.“ Sie deutete auf den verbeulten Beiwagen neben sich. „Dann kannst du selbst ein Auge auf die Dinge haben.“ Wilmine strich über das dicke abgewetzte Buch, das im Wagen lag, und zwinkerte verschwörerisch. „Gerade dort, wo ich hinwill, wäre ein Paar starke Flügel wie deines von Vorteil“, versuchte sie der eigensinnigen Henne weiter zu schmeicheln.
Es half. Mit erhobenem Haupt – auf dem eine kleine Lederkappe mit Mini-Kamera saß – stolzierte Genie auf den Beiwagen zu, hopste hinein und machte es sich auf dem Buch bequem. Gerade so, als wäre es eines ihrer Eier, die sie gedachte auszubrüten.
„Danke, meine Liebe“, sagte Wilmine leise und meinte es auch so. Sie und die Henne waren einfach ein Team.
Langsam rollten sie vorwärts und stießen mit dem Vorderrad die Schuppentür auf. Dann brausten sie über die tauverhangene Wiese, die vor Wilmines Häuschen im Morgenlicht schimmerte. Allmählich nahmen sie mehr Fahrt auf.
Knatternd ging es unter den Apfelbäumen hindurch und aus dem Gartentor hinaus. Der moosbewachsene Waldweg führt sie genau dorthin, wo sie hinwollte: schnurstracks in Richtung Berge.
Schon bald erreichten sie die versteckte Schotterstraße, auf der sie einer steilen Felswand entgegenbrausten. Während Wilmine der Fahrtwind um die Nase wehte und die Sonne sich gerade hinter dem Bergrücken hervorschob, näherte sich von hinten ein Fahrzeug.
Im Seitenspiegel erkannte sie eine glänzende schwarze Limousine.
Wilmine gab Gas. „Wir bekommen Besuch, mein Mädchen. Festhalten, jetzt wird’s holprig.“ Das Motorrad schoss über einen Hubbel, verlor kurzzeitig Bodenkontakt und knatterte aufgebracht. Wilmine lehnte sich weit über den Lenker, federte den Aufprall spielend ab, bevor sie ihr Gefährt in eine scharfe Kurve manövrierte. Jetzt ging es bergauf. Eine enge Serpentinenstraße schlängelte sich vor ihr empor.
Die Henne kauerte dicht über dem Buch, ihr Gackern wurde vom Wind verschluckt.
„Genie, keine Sorge, wir sind schneller und wendiger. Hier werden sie uns erst mal nicht einholen können!“, lachte die Alte, winkelte das Knie ab und legte sich in die Kurve. Ihre grauen Locken wirbelten ihr wild durchs Gesicht. Ein Blick in den Seitenspiegel verriet ihr, dass die große Limousine tatsächlich Mühe hatte zu folgen. Zufrieden schaltete Wilmine noch einmal einen Gang runter und heizte weiter die Straße hinauf. Der Motor röhrte. „Komm schon, komm schon!“, feuerte sie die alte Maschine an. „Wir schaffen das, nur noch ein paar Kilometer.“ Dann würden sie zu Fuß weitermüssen.
Noch zwei Kurven, noch eine. Schon brauste sie über den Bergpass hinweg und das Tal eines idyllischen Flusslaufs entlang. Ein Schild kam näher,Camp Bärensteig war darauf zu lesen. Dahinter lag ein verlassener Parkplatz.
Wilmine drosselte die Maschine. Vor einer kleinen, frei stehenden Holzhütte riss sie den Lenker herum und bog auf einen steilen Waldpfad ab, der sie abwärts führte. Das Motorrad ächzte bedenklich. Holpernd fuhren sie über eine große Baumwurzel. Der Beiwagen machte einen Satz und Genie wurde in die Luft geschleudert.
<