Leise tönt das Martinshorn 32 Randbemerkungen
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Wolfgang Eckert
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Leise tönt das Martinshorn 32 Randbemerkungen
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EDITION digital
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9783965218024
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1
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CHF 6.10
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Comic, Cartoon, Humor, Satire
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German
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122
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Wasserzeichen
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PC/MAC/eReader/Tablet
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ePUB
Der Titel dieses Buches hat den Charakter eines Oxymorons - also eines Widerspruchs in sich wie etwa ein schwarzer Schimmel. Denn eigentlich ist ein Martinshorn dafür da, sich laut bemerkbar zu machen ... In seinen 32 Randbemerkungen nimmt sich der Autor vieler verschiedener Dinge an, so zum Beispiel dem Recht auf Traurigkeit - wofür es nach der Wende den einen oder anderen Grund gibt -, den Vorstellungen der Deutschen vom Paradies und dem Beginn der Mode (Stichwort Evas Feigenblatt), den Ritualen am Nikolaustag, einer neuen Partykultur, dem Liebesleben ostdeutscher Frauen (sie kommen im Bett eher als westdeutsche) und der Vernunft im philosophischen Sinne, den Ossis und den Wessis, dem Wahlkampf, den Gewinnern und Verlierern, dem Lottoglück und einer ganz besonderen Art von massentauglicher Literatur, der bundesdeutschen Währungsunion sowie Staatsmännern und Rasierklingen, einem unechten Onkel Willy, der ein echter Gipfelstürmer ist, einem Besuch bei einer wirklich alten Dame (91) und einem Splitternacktschwimmer, dem richtigen Umgang mit Zorn und der Fantasie von Schriftstellern, Weihnachtsgedanken, nach der Wende verschwundenen Begriffen wie zum Beispiel Schichtzüge, Ereignissen der unmittelbaren Nachkriegszeit, der begeisterten Karl-May-Lektüre eines kleinen Jungen, dem Alltagsleben der Stare und dem Nachdenken über Narren, Märchen und Lügen, verschwundenen Hoffnungen aus DDR-Zeiten, Humor und Traurigkeit (wie beim Dichter Joachim Ringelnatz), deutschen Philosophen und deutschen Zuständen, dem Klicksern (falls Sie nicht wissen sollte, was das ist, lesen Sie Randbemerkung Nr. 26), seiner Heimatstadt Meerane und ihren Menschen sowie Schwierigkeiten mit der Bildung, der gesellschaftlichen Funktion der Dichtkunst und einem Amoklauf an einem Erfurter Gymnasium, einem Tag im Jahre 1918 und nicht zuletzt Lesungen im Stollberger Frauengefängnis 'Hoheneck' und Erfahrungen mit dem Arbeitsamt und dem Untergang eines Menschen. Und damit noch einmal zur Geschichte Nr. 26 und zu dem eingangs erwähnten Oxymoron. Denn diese Randbemerkung endet folgendermaßen: Wer sich über das Gedicht meines in Zöblitz lebenden Freundes Wolfgang Buschmann freuen kann, der hat noch jenen ungetrübten Rest an Kindheit, von dem ich anfangs schrieb, in sich. Es war einmal ein Martinshorn, das hatte einen Ton verlorn. Er fiel ins hohe Gras hinein und schlief nach fünf Minuten ein. Dort fand ihn die Kuh Liese und fraß ihn als Gemüse. Am nächsten Morgen muhte sie, und zwar: tatü, tata, tatü.
Geboren am 28. April 1935 in Meerane. Nach der Grundschule Besuch der Meeraner Webschule mit dem Abschluss als Wollstoffmacher und arbeitete anschließend in Webereien. Von 1960 bis 1963 studierte er am Leipziger Literaturinstitut 'Johannes R. Becher'. Danach leitete er die Gewerkschaftsbibliothek im VEB 'Palla'. Neben der Halbtagstätigkeit widmete er sich seinem schriftstellerischen Schaffen. Er gründete einen Literaturklub, war künstlerischer Betreuer des Zirkels Schreibender des Kulturbundes des Kreises Glauchau. Von 1989 bis 1992 war er Redakteur beim 'Meeraner Blatt' und von 1992 bis 1993Referent des sächsischen Landtagsabgeordneten Joachim Schindler (SPD). Seit 1970 schrieb Eckert als freiberuflicher Schriftsteller zwei Fernsehspiele, ein Theaterstück, zwei Romane, Erzählungen, Feuilletons, Geschichten, Aphorismen, Autobiografien, eine Biografie und Gedichte. Außerdem verfasste er Beiträge für 24 Anthologien sowie Artikel für zahlreiche Zeitungen. Eckerts Erzählweise reicht von humoristischen, ironisch-satirischen, politisch bissigen bis hin zu ernsten Tönen. Auszeichnungen: Förderpreis des Institutes für Literatur 'J. R. Becher' Leipzig und des Mitteldeutschen Verlages Halle 1972 Hans-Marchwitza-Preis der Akademie der Künste der DDR 1974 Kurt-Barthel-Preis des Bezirkes Karl-Marx-Stadt 1983 Johannes-R.-Becher-Medaille in Silber und Bronze des Kulturbundes der DDR Bürgermedaille der Stadt Meerane 2016
Besuch bei einer alten Dame Ich musste immer zweimal klingeln, wenn ich sie besuchte. Einmal kurz und einmal lang. Damit sie gleich wusste, wer da kommt. Die Küchentür klickte, ihre kurzen schlürfenden Schritte waren im Vorsaal zu hören. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt nur, und sie sah ängstlich geworden heraus in die Welt, die für sie kleiner wurde. Dort draußen lehrte sie einst Hauswirtschaft und Kochen, und das war lange her. An ihrem Gesicht erkannte ich, ob es heute ein guter oder ein schlechter Tag ist. Manchmal lag sie im Zimmer, und sie konnte sich die Ursache nicht erklären. Vor Jahren führte sie mich stets ins Wohnzimmer. Wir saßen dann vor dem Schrank, der das Kostbarste aufbewahrte, was sie noch besaß: Bücher. Seit ihrer Jugend hatte sie die Angewohnheit, Zeitungsartikel über diese Bücher oder ihre Autoren zwischen die Seiten zu legen. Jetzt, da ich ihre Bibliothek besitze, erweist sich solch eine Sammlung als absolute Seltenheit. Schlägt man Remarques 'Im Westen nichts Neues' auf, fällt einem ein vergilbter Zeitungsfetzen entgegen, in dem zu lesen ist, dass sie Remarques Schwester nur deshalb ins KZ verschleppten, weil sie des Bruders nicht habhaft wurden. An den Rand der Buchseiten schrieb sie ihre Bemerkungen, heftig zustimmend oder erzürnt ablehnend mit Ausrufungszeichen. Manchmal ein Fragezeichen. Man sieht, wie sie dachte und mitempfand, was sie dachte, wie sie lebte. Sie ist auf eine immer noch wundersame Weise da. Stets lagen irgendwelche Aphorismen herum, die sie bis zu meinem Besuch aufgehoben hatte, damit einer mit ihr über den Witz eines Gedankens lachen konnte. Allein lachen, machte ihr immer weniger Spaß. Im Wohnzimmer standen etwa zehn Fotos ihrer Angehörigen auf dem Schreibtisch im Halbkreis um ein Biedermeiersträußchen versammelt. Von ihnen lebte keiner mehr. Medaillons mit ihren Eltern hatte sie etwas vorangestellt. Ich glaube, sie hatte alle dort aufgebaut, weil sie mit ihnen redete. Manchmal, wenn sie aus dem Wohnzimmer kam, sah es so aus, als hätte sie geweint. Vielleicht war das Wohnzimmer eine Erinnerung an schöne Tage. Die letzte Feier gab es dort zu ihrem neunzigsten Geburtstag. Seitdem wirkte das Zimmer mit den von ihren Eltern geerbten uralten verzierten Möbelstücken wie aus einer fernen Vergangenheit, wie ein Museum. Später reichte die enge Küche für unsere Begegnungen. 'Guck dich nur nicht so um, wie es bei mir aussieht', sagte sie jedes Mal, obwohl sie doch wusste, dass ich nie zu jemandem kam, um zu sehen, wie es dort aussieht. Die alte Kamelhaardecke auf dem Sofa beulte sich einer Höhle gleich, aus der sie gekrochen war. Sie lag jetzt immer häufiger darunter, frierend, und zu den Büchern greifend, die auf dem Tisch herumlagen wie Inseln. Nachbarn kümmerten sich rührend, versorgten sie, wann sie nur konnten mit allem, was sie brauchte. Sie wäre ohne diese gütigen Nachbarn nicht mehr in der Lage gewesen, den ganzen langen quälenden Tag zu bewältigen. Noch eine Frau kam, die resolut und voller derber Wärme die Wohnung in Ordnung hielt. Sie sprach mit ihnen allen über die wichtigen Dinge des Alltages, über die Brikett, die noch aus dem Keller geholt werden mussten, den vollen Aschekasten, ob vielleicht Post im Briefkasten