Nur wenige Zeichen – und die auf Twitter lancierte Nachricht verbreitet sich prompt und unauslöschlich im planetarischen Raum des Netzes. Die Follower retweeten, Sympathisanten leiten sie weiter. Das auf den ersten Blick harmlose Gezwitscher bringt einen Zweifel zum Ausdruck, wirft Fragen auf: »#5G Schützt Euch vor den bösartigen Wellen und schädlichen Signalen«, »#Bigpharma Wem nützt die Massenimpfung?« Die Einwände jagen diesem Gezwitscher hinterher, die Entgegnungen verfolgen es vergeblich, während einen der Verdacht beschleicht und sich Angst breitmacht. Eine große Erzählung ist da überhaupt nicht mehr vonnöten; einige wenige Klicks genügen, um die Stimmen des Komplotts in alle Welt hinauszutragen.
Im 21. Jahrhundert hat das Phänomen derartige Ausmaße angenommen, dass immer öfter von einem goldenen Zeitalter des Komplottismus die Rede ist. Kein unverhofft eintretendes Ereignis, das nicht zugleich auch einen Schauder des Misstrauens erregen würde: Umweltkatastrophen, Terroranschläge, unaufhaltsame Migrationen, Wirtschaftskrisen, brisante Konflikte, politische Umstürze. Nach erstem Erstaunen und Empörung greift Panik um sich, steigt die verschwörerische Fieberkurve an. Wer steckt dahinter? Wer zieht die Fäden? Wer hat jene Ränke geschmiedet? Man sucht nach den Schuldigen für Katastrophen, für Armut, Kriege, Ungleichheiten, aber auch für die unzähligen Gewaltakte, Übergriffe und Missbräuche, für einen allgemeinen Mangel an Ethik und Moral, für ein diffuses Unbehagen, für den unendlichen Sinnverlust.
Der Komplottismus ist eine unmittelbare Reaktion auf überbordende Komplexität. Er stellt eine Abkürzung, mithin den schnellsten und einfachsten Weg dar, um einer unlesbar gewordenen Welt beizukommen. Wer zum Komplott Zuflucht sucht, hält die Beunruhigung, die offene Frage nicht mehr aus. Er erträgt es nicht, in einer äußerst wandelbaren und zutiefst instabilen Landschaft zu wohnen, duldet kein Befremden, keinerlei Fremdheit. Er zeigt sich unfähig dazu, sich gemeinsam mit den anderen als exponiert, verletzlich und schutzlos wahrzunehmen, daher jedoch auch als umso freier und verantwortlicher.