Vorwort
Halle, Sachsen-Anhalt,3. Oktober2021. Eine67-jährige Frau in einem cremefarbenen Blazer und einer schwarzen Hose betrat die Bühne. Sie war die vielleicht mächtigste Frau der Welt, und man erkannte sie sofort. Ihre Hosenanzüge, ihr blonder Kurzhaarschnitt und ihr nüchternes Auftreten waren längst zum Markenzeichen geworden. Als sie ihren Platz zwischen den Flaggen Deutschlands und der Europäischen Union einnahm und die Mikrofone am Rednerpult justierte, spürten viele im Publikum, dass sie einem historischen Moment beiwohnten. Nach16 Jahren an der Spitze der größten europäischen Demokratie war die scheidende deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gekommen, um über nationale Einheit zu sprechen.
Der3. Oktober ist das, was einem deutschen Nationalfeiertag am nächsten kommt. Der Tag der Deutschen Einheit erinnert an die Wiedervereinigung des Landes im Jahr1990, nachdem41 Jahre lang zwei getrennte deutsche Staaten existiert hatten: die Bundesrepublik Deutschland im Westen und die Deutsche Demokratische Republik im Osten. Auf den Tag genau31 Jahre waren seitdem vergangen. Nach dieser historisch relativ kurzen Zeitspanne war die Ära der deutschen Teilung jedoch keinesfalls Geschichte. Ganz im Gegenteil: Die Wiedervereinigung, so begann die scheidende Kanzlerin ihre Ansprache, sei ein Ereignis, »das die meisten von uns bewusst erlebt haben und das […] unser Leben verändert hat«.[1]
Das Jahr1990 war nicht nur für die deutsche Nation, sondern auch für Merkel persönlich ein Wendepunkt. Es markierte den Beginn ihres steilen Aufstiegs an die Spitze der deutschen Politik. Im Jahr1954 war ihr Vater mit der Familie von West- nach Ostdeutschland umgezogen, als sie gerade drei Monate alt war. Die ersten35 Jahre ihres Lebens hatte Merkel östlich der innerdeutschen Trennungslinie verbracht. In diesen Jahren hatte sie sich von der Pastorentochter zur selbstbewussten Wissenschaftlerin entwickelt, was sie mindestens ebenso geprägt hatte wie die drei Jahrzehnte seit1990.
Angela Merkels lange Karriere an der Spitze der deutschen Politik steht exemplarisch für die vielen Erfolge der Wiedervereinigung. Als der ostdeutsche Staat, der ihre Heimat gewesen war, plötzlich zerfiel und Teil des westdeutschen Systems wurde, welches man bislang als den »Klassenfeind« angesehen hatte, machte sich Merkel unverzüglich an die Arbeit, ohne zurückzuschauen. Oder zumindest, ohne dies öffentlich zu tun. Sie erkannte, dass ihre ostdeutsche Herkunft auf dem Papier einen politischen Vorteil in einem Land darstellte, das zeigen wollte, dass es nun eine geeinte Nation war. Tatsächlich aber galt dies nur, solange ihre Herkunft nicht vordergründig ihre Identität bestimmte. Das Establishment wollte nicht ständig daran erinnert werden, dass es länger dauern würde, die Mauern in den Köpfen der Ost- und Westdeutschen niederzureißen als die physische Mauer.
In den seltenen Fällen, in denen Merkel Einzelheiten über ihr Leben in derDDR preisgab, wurde dies in den Machtzirkeln, die auch heute immer noch weitgehend von ehemaligen Westdeutschen dominiert werden, mit Feindseligkeit aufgenommen. Als sie1991 erzählte, sie habe1978 für ihre Doktorarbeit einen Aufsatz mit dem Titel »Was ist sozialistische Lebensweise?« schreiben müssen, setzten Journalistinnen und Journalisten Himmel und Hölle in Bewegung, um die Arbeit zu finden. »Sie glaubten, da gäbe es Gott weiß was für einen Skandal zu enthüllen«, sinnierte Merkel später.[2] Solche politischen Arbeiten gehörten zum Universitätsleben in derDDR und wurden von vielen als lästig empfunden, so auch von Merkel selbst, die für diesen Aufsatz die einzige schlechte Note in einer ansonsten glänzenden akademischen Laufbahn erhielt. Wie viele andere Aspekte des Lebens in derDDR zeigte auch diese Episode, dass